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Behinderung Ein Mann, der Wände hören kann

Wie kommt ein blinder Mensch im Alltag zurecht? Frank Brehmer berichtet im Schönebecker Freizeitzentrum aus seinem Alltag.

Von Kathleen Radunsky-Neumann 08.11.2016, 18:02

Schönebeck l Es ist ein Tag, der Frank Brehmer in Erinnerung bleibt. Neun Jahre alt war er, als Löschkalk in Folge einer Explosion sein Augenlicht zerstörte. 50 Mal ist er seither an den Augen operiert worden. 2008 ist der Schönebecker vollends erblindet. Sein Leben genießen, das kann der heute 54-Jährige trotzdem. Davon hat er jetzt den Jugendlichen im Freizeitzentrum „Future“ in Schönebeck berichtet.

„Ich spiele in Stendal Tischball“, erzählt er beispielsweise. Tischball? Das ist vergleichbar mit Tischtennis, nur eben für Blinde. Um den Kindern zu zeigen, wovon er spricht, startet Christiane Richter ein Video aus dem Internet. Mit Spannung verfolgen die zwölf Jugendlichen das Spiel der Blinden, die mehr oder weniger durch ihr Gehör den Ball kommen „sehen“. Nicht nur beim Sport können Blinde „sehen“. So erzählt Frank Brehmer, dass er nur bei ihm unbekannten Strecken den Blindenstock benötigt. „Wenn es ganz ruhig ist, dann kann ich einen Baum oder einen Strommast hören“, sagt er. Das ist keine Einbildung. Deshalb lässt er das die Jugendlichen nachempfinden. Kurzerhand werden die Augen verbunden. Ohne Hilfsmittel irren die Mädchen und Jungen durch den Raum. Wer sich auf das Experiment einlässt, der erfährt am eigenen Körper, was Frank Brehmer gemeint hat.

„Die anderen Sinne schärfen sich“, erklärt der Schönebecker den gerade erlebten Effekt. So nehme er auch Gerüche viel bewusster wahr als Sehende. Für die Jugendlichen ist das sehr anschaulich. Und auch Frank Brehmer selbst kommt gut an. Mit ruhiger Stimme erzählt er, während die Kinder still dasitzen und gespannt zuhören. „Wie ist denn das eigentlich mit dem Essen“, fragt Tobias. „Das mache ich mit dem Besteck“, sagt Frank Brehmer. Soll heißen: Er erfühlt, wo sich was auf dem Teller befindet, bevor er überhaupt mit dem Essen beginnt.

Apropos essen. Wie steht es mit kochen und backen? Das macht der Schönebecker auch gern. Und er kann das sogar ohne Hilfe Dritter. Dafür nutzt er die moderne Technik. Denn viele Hilfsmittel können sprechen. Als Beweis hat Frank Brehmer eine Küchenwaage und einen Kurzzeitwecker mitgebracht. Diese sprechen ihren Nutzer mit „Guten Tag“ an und verabschieden sich beim Ausschalten sogar. Viel wichtiger ist aber, dass sie dem Nutzer die gewünschten Informationen nennen. Diesen Sprachmodus gibt es auch für Körperwaagen, die Armbanduhr und und und.

„Diese Hilfsmittel sind teuer, weil sie nicht in so großen Mengen produziert werden“, berichtet der Schönebecker. Manchmal könne man aber ein Sparfuchs sein. So hätten Discounter heute ab und an Waagen und ähnliches mit Sprachmodus im Angebot. Doch wie findet ein Blinder überhaupt die Angebote der Supermärkte? „Ich gehe ins Internet“, antwortet Frank Brehmer wie selbstverständlich. Wie surft bitteschön ein Blinder im Internet? Dank der modernen Technik. „Handys verfügen heutzutage ebenfalls über Spracherkennungssoftware“, sagt er.

Bei vielen Dingen können technische Hilfsmittel unterstützen. Bei manchem muss man aber auch einfallsreich sein. Man denke nur an unterschiedlich farbige Socken. Frank Brehmer hat bei seinem Besuch im Freizeitzentrum „Future“ die zueinander passenden Socken an. „Abends, wenn ich sie ausziehe, klammer ich sie zusammen“, plaudert er sozusagen aus dem Nähkästchen. Jeden Abend? „Ja, man muss als Blinder ordentlich und organisiert sein“, fügt er hinzu.

Doch nicht nur Pflichten gehören zu dem Leben von Frank Brehmer. Neben dem eingangs benannten Tischball widmet er sich ebenso gern dem Schachspiel. Ein extra für Blinde hergestelltes zeigt er der Gruppe. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein handelsübliches Schachspiel. Der genaue Blick zeigt aber, dass die schwarzen und weißen Figuren sich außerdem durch einen Aufsatz unterscheiden. Und damit die Figuren nicht verrutschen, wenn die blinden Spieler das Schachbrett abtasten, werden sie auf das Brett gesteckt.

Frank Brehmer hat zwei Nachmittage im „Future“ gestaltet. Organisiert werden diese Veranstaltungen von den Future-Mitarbeiterinnen Christiane Richter und Ines Ohlmeyer. Der Jugendclub „Future“ gilt als Integrationsclub, denn hier treffen „Normalos“ täglich auch mit Menschen mit Behinderung zusammen. Trotzdem herrschen manchmal Berührungsängste, sagt Ines Ohlmeyer vom Jugendclub. Genau diese sollen abgebaut werden. In einer ungezwungenen Runde können alle möglichen Fragen nach der Behinderung gestellt werden. „Und die Zuhörer werden sensibilisiert, wie schnell man einen seiner Sinne beispielsweise verlieren kann“, sagt sie.

Gefördert werden die drei Veranstaltungen durch das Bundesprogramm „Demokratie leben“.

Nachdem Frank Brehmer über das Leben als blinder Mensch berichtet hat, wird am kommenden Montag, 14. November, Claudia Richter von ihrer Erkrankung, dem Leben davor und dem danach berichten. Beginn ist um 16 Uhr im Jugendclub „Future“, Moskauer Straße 30.