Geschichten zwischen Elbe und Fläming: Warum Halles Anspruch Architekt Gehse in Wallung bringt
Die Schönebecker "Elbhäuser" sind mit 133 Metern Länge eines der längsten Fachwerkhäuser Deutschlands. Vom Marketing der Elbestadt stiefmütterlich behandelt, ist man in Halle weiter. Dort werden die Franckeschen Stiftungen werbewirksam mit diesem Superlativ bedacht. Doch sie sind 19 Meter kürzer.
Schönebeck l Mit Superlativen lässt sich trefflich Reklame machen: "Wussten Sie, dass... Halle mit den Franckeschen Stiftungen das längste Fachwerkhaus Europas besitzt?", wirbt die Stadtmarketing Halle GmbH auf ihrer Internetseite.
Und so geht es weiter. Die Webseiten-Gestalter nehmen dankbar an, was ihnen von cleveren Öffentlichkeitsarbeitern serviert wird. Und weil sich einer am anderen orientiert, verbreitet sich diese Information wie die Zellteilung.
"Sie behaupten, dass Halle über das längste Fachwerkhaus Europas mit 114 Metern Länge verfügt. Das kann nicht sein!"
Doch es gibt mindestens zwei Männer, die dafür überhaupt kein Verständnis haben: der Schönebecker Christian Jung (62) und Karl Friedrich Gehse (75), Architekt aus Bochum. Letzterem ging Ende vergangenen Jahres der Hallenser Superlativ erst an die Ehre und jetzt auf den Geist.
"Durch Zufall bin ich auf Ihre Internetseite gestoßen. Dort behaupten Sie, dass die Stadt Halle über das längste Fachwerkhaus Europas mit 114 Metern Länge verfügt. Das kann nicht sein!", schrieb Karl Friedrich Gehse empört an die Öffentlichkeitsabteilung der Franckeschen Stiftungen in Halle. "Wenn Sie einige Kilometer Saale-Elbe abwärts auf Höhe der Stadt Schönebeck rudern, werden Sie linkerhand ein Haus entdecken, das gemessen 133 Meter lang ist", empfiehlt der Architekt. Gehse ist quasi Geburtshelfer der Schönebecker "Elbhäuser", hat der Salzstadt an vielen Stellen sein städtebaulichen Siegel aufgedrückt. Der 75-Jährige nimmt außerdem für sich in Anspruch, "einige alte Bausubstanz vor dem Abbruch bewahrt zu haben, wie auch diesen Salzspeicher".
Die Franckeschen Stiftungen hätten sich vornehm zurückgehalten und auf seine Mail nicht reagiert, klagt Gehse.
Im Nachschlag kündigte er deswegen an: "Ich werde mich in den nächsten Tagen an Google wenden, um eine sachlich-fachliche Klarstellung zu erreichen." Wobei er auch einen Kompromiss anbot: "Vielleicht findet man ja auch eine Formulierung, die zu beiden Gebäuden passt ..."
Daraufhin bestätigte die Stadtmarketing Halle (Saale) GmbH, mit dem Begriff "Das längste Fachwerk-Ensemble Europas für diesen einmaligen Bildungskosmos im Herzen Halles" zu werben. "Denn von nur einem Fachwerkhaus kann bei diesem komplexen Gebäude-Ensemble auf dem Stiftungsgelände eigentlich gar nicht gesprochen werden", relativiert eine Mitarbeiterin.
Was lernen wir daraus? Das Wörtchen "Ensemble" kann den feinen Unterschied ausmachen.
In Schönebeck ist es ein durchgehendes Haus, das solche Spitzfindigkeiten nicht nötig hat: Es ist 133 Meter lang und wurde 1876 als Salzspeicher der Saline gebaut. Das "weiße Gold" war Siedeprodukt der benachbarten Saline. Von Schönebeck aus wurde es per Schiene und Schiff in alle Welt transportiert. "Die Leute haben früher auch vom Steinsalzlager gesprochen", berichtet Christian Jung, dessen Geburtshaus nur wenige Schritte entfernt an der Müllerstraße steht. Das Viertel zwischen Elbbrücke und Jakobikirche ist der wohl ursprünglichste Ort im ansonsten eher tristen Schönebeck. Für Christian Jung ist es ein prägender: "Als Kinder haben wir im Altstadtviertel gespielt, sind sozusagen mit Elbwasser an den Füßen groß geworden." Dieses Schicksalsangebot zeichnet vielleicht verantwortlich, dass der spätere Stadtrat und heutige Flussbereichsleiter im Landesbetrieb für Wasserwirtschaft (LHW) die Bürgerinitiative "Rettet die Altstadt" gründete.
"Schon 1990 haben wir uns Gedanken gemacht, wie das hier mal werden soll", sagt Jung. Der Zufall brachte ihn und Karl-Friedrich Gehse über Umwege zusammen. Da beide Männer "gleich tickten", war man sich einig: An der Elbe zu leben ist attraktiv.
"Leider, vielleicht auch glücklicherweise, war der Bereich ziemlich herunter gekommen und somit dem Zugriff der DDR-Planer entzogen. Es war von Anfang an unsere Absicht ...hier etwas Besonderes entstehen zu lassen," schreibt Karl Friedrich Gehse in seinen Schönebeck-Erinnerungen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte das Salzlager die letzten DDR-Jahre als Lager für Haushaltswaren gut überstanden. "Als der Schuppen leer war, kam es zu ersten Randale-Schäden", weiß Christian Jung noch.
Zeit zum Handeln.
"Die jahrzehntelange Salzlagerung hat das Holz regelrecht konserviert", berichtet der 62-Jährige. Als man das Vorhaben ins Auge fasste, sei man darüber erstaunt und motiviert gewesen. So kam es, dass die Elbweg GbR gegründet wurde, die das Fachwerkhaus der Treuhand abkaufte. Gehse erarbeitete das Projekt, übernahm die Bauleitung. Der alte Salzschuppen sollte in 25 abgeschlossene Eigentumswohnungen im Reihenhausstil umgebaut werden. "Als im ersten Bauabschnitt drei Häuser fertig waren, standen die Interessenten nicht gerade Schlange", erinnert sich Christian Jung. Jede Menge "Sehleute" habe es gegeben, aber nur wenige, die wirklich kaufen wollten. Die ewigen Skeptiker und Neider des Projektes - Gehse baute damals gefühlt halb Schönebeck um - rieben sich die Hände.
Mit den Erstbezügen wuchs auch das Interesse zunehmend. "Wir haben so manche schlaflose Nacht gehabt, wegen der Finanzierung", gesteht Jung. Schließlich musste mit dem erwirtschafteten Geld der restliche "Salzschuppen" umgebaut werden. Doch dann sei das Projekt zum "Selbstläufer" geworden. Nach dem Erstbezug 1994 waren vier Jahre später alle (bis auf sechs an der ehemaligen Schönebecker Kläranlage angrenzende) Hausteile bezogen. Auch Christian Jung lebt seit 1995 in der Nummer 9.
Wer hier wohnt, weiß das Individuelle des Quartiers zu schätzen. Jedes Reihenhaus ist lichtdurchflutet und bietet über drei Ebenen zwischen 115 und 200 Quadratmeter Wohnfläche. Nicht zu vergessen der Permanentblick auf die Elbe. Karl Friedrich Gehse gestaltete das Fachwerk so, dass jeder Eingang eine individuelle Giebelgestaltung hat. Kein Haus gleicht somit dem anderen. Hinzu kommt die unterschiedliche Farbgestaltung der Türen.
Wer sich genau die Vorgärten betrachtet, entdeckt den Rest eines alten Gleises. Wie Jung sagt, hätte dessen Erhalt zwei Gründe gehabt: "Erstens wäre es zu teuer gewesen, es herauszureißen und zweitens gehöre es schließlich da hin."
"Die denken doch noch heute, dass wir dadurch zu Millionären geworden sind"
Das exklusive Salz-Fachwerkhaus hatte im Januar 2009 für viel Wirbel gesorgt, als Christian Jung auf eigene Faust eine Kahnskulptur im öffentlichen Raum aufstellen ließ. Als stählerne Silhouette trug der Kahn einen Fährmann, der für Eingeweihte jedoch eindeutig die Züge des Bochumer Architekten Gehse trug. Die Stadtverwaltung Schönebeck hatte Jung daraufhin aufgefordert, die Skulptur zu entfernen, weil keine Genehmigung erteilt worden war. Denn die Rolle des Architekten wird in der Elbestadt mitunter kontrovers beurteilt.
Jung ließ den Kahn inklusive Gehses Konterfei nur wenige Meter weiter auf sein privates Grundstück versetzen. In Breitenhagen sah man diese "Provokation" nicht so verbissen: Dort steht eine ähnliche Skulptur im öffentlichen Raum.
Erhellen Provinzpossen wie diese vielleicht, warum die Stadt Schönebeck so zurückhaltend mit dem Pfund "Salzhäuser" wuchert? "Davon bin ich überzeugt. Die denken doch noch heute, dass wir dadurch zu Millionären geworden sind", winkt Jung ab.
Wie dem auch sei: Ob in Halle oder Schönebeck - wer solche schönen, stadtbildprägenden Gebäude für die Nachwelt erhält, hat großen Respekt verdient.