Heimatgeschichten Glinde: Wo„Vati“ eine Eiche zur Orientierung pflantze
In loser Folge wird heute die Serie heiterer Geschichten fortgesetzt, die sich hauptsächlich in und im Umfeld von Barby zutrugen und einen authentischen Hintergrund haben. Die 26. Story spielt Mitte der 60er Jahre in Glinde. Ein LPG-Bauer pflanzte zu seiner Orientierung eine Eiche.

Glinde - Wer heute von Glinde nach Barby fährt - zum Beispiel wenn er zur Lichtmess will oder Bioeier von Kutschbachs Ziegenhof holt - wählt den Weg über Monplaisir. Jedenfalls wenn er mit dem Fahrrad unterwegs ist. Denn die Feldwege sind für Motorfahrzeuge tabu, so sie nicht der Landwirtschaft angehören.
Ganz Unerschrockene können auch von der Landesstraße Barby-Pömmelte abzweigen und ab Höhe Kieswerk über die Gemarkung Trebbau über einen buckligen Feldweg nach Glinde strampeln. An diesem Weg hat sich Walter Fabian ein Denkmal gesetzt. Doch dazu später. (Man hat den Eindruck, dass es nur wenige Menschen in Glinde gibt, die nicht Fabian oder Randel heißen. Aber das ist subjektiv ...)
Die Geschichte geht so: Franz Jacob verdient seine Brötchen in der LPG Glinde. Er ist Traktorist. Im Betrieb hat er sein Tun, pflügt den Acker, fährt Gülle aufs Feld oder Landwirtschaftsprodukte nach Barby. Zu seinen ständigen Zielen gehört auch das Volksgut Barby (VEG). Dorthin transportiert er Milch oder holt geschrotetes Futter von der VEG-Mühle.
Sein Kompagnon ist Walter Fabian. Sein Spitzname lautet „der Vati“. Es hätte peinlicher sein können. Zum Beispiel wenn man ihn Kackarsch, Doofsack oder Schwiegermuttermörder rufen würde.
Wenn Franz den Traktor lenkt, sitzt Walter auf dem Hänger dahinter in seinem Windschutzhäuschen. Hier kann er vor sich hin dösen, manchmal auch ein bisschen schlummern, denn der Weg von Glinde nach Barby kann eine halbe Stunde dauern.
Walter ist mit sich im Reinen. Franz auch. Es gibt Schlimmeres, als mit dem Trecker Landwirtschaftsprodukte von Punkt A nach Punkt B zu fahren.
Wei mutten zurick! Dat soll uns nächstes Joahr nich’ wedder passiern!
Vati Walter Fabian
Über dem Acker spektakeln die Herbst-Krähen, hin und wieder huscht ein Hase übers Feld.
Doch der Weg ist nicht ohne Tücke. Es ist ein zerfahrener Feldweg, den die Menschen seit Jahrhunderten benutzen.
Franz Jacob muss sich konzentrieren, denn an einer Stelle biegt der Weg in Richtung Monplaisir in tückischem rechten Winkel noch vor dem Hohen Teich nach links ab. Schon ein paar Mal hat er die Abfahrt verpasst.
Das geschieht oft im Winter, wenn in der Nacht Neuschnee fällt, der nun alle Fahrspuren überdeckt. Dann sind das Raum-Zeit-Gefüge und die Orientierung etwas schwierig.Erschwerend kommt noch hinzu, wenn der Transport in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden stattfindet, also wenn es dunkel ist.
Das alles weiß Traktorist Franz. Walter auch, aber den stört das nicht weiter, der döst ja im Hängerhäuschen.
Es ist Spätherbst 1964. Dichter Nebel wabert von der Elbe her über die Felder. Wieder ist das Dream-Team Walter und Franz auf Achse.
Franz starrt hochkonzentriert auf die Fahrspur vor sich. Der Feldweg ist kahl. Es gibt kaum Orientierungsmerkmale. Den einzigen Anhaltspunkt bietet Anneliese Krauses Obstplantage. Wenn diese passiert wird, sind es noch etwa einhundert Meter und man muss nach links abbiegen.
Doch wie weit sind einhundert Meter?
Die Entfernung kann Franz nur schätzen und über den Daumen peilen. Aber wie heißt es so schön in Glinde: „Die Breeten und die Groten mit den riesengroten Pfoten.“ Die Größenverhältnisse der jeweiligen Daumen sind zu unterschiedlich. Da sind Meter eben nicht gleich Meter.
So verflucht und zugenäht ist es auch dieses Mal. Franz Jacob verpasst das rechtzeitige Abbiegen und fährt geradeaus. Erst als die Apfelbäume am Graben beim Pasterberg aus dem grauen Dunst auftauchten, dämmerte es ihm: Verflucht, wir sind wieder mal zu weit gefahren.
„Vati“ Walter Fabian in seinem Häuschen auf dem Hänger hat davon überhaupt nichts mitbekommen. Er denkt schon an Weihnachten und was er seiner Frau Schönes schenken wird. Plötzlich stutzt er, weil Franz plötzlich stoppt.
„Wei mutten zurick!“, ruft Traktorist Franz und versucht, sein Gefährt in die entgegengesetzte Richtung zu bugsieren. Walter hilft ihm dabei. Das Gekrächze der Krähen über ihnen klingt wie Hohn.
„Dat soll uns nächstes Joahr nich’ wedder passiern!“ schwört sich Vati Walter.
Tage später gräbt er auf dem Jungenswerder einen jungen Eichenbaum aus und pflanzt ihn kurz vor dem Abzweig nach Monplaisir.
Fortan haben die Beiden einen „wachsenden“ Wegweiser, der eine Irrfahrt in Zukunft ausschließen wird.
Heute, 2023, ist der Weg mit Betonfahrspuren versehen. Geradeaus, in Richtung Hoher Teich und Kieswerk, nicht. Walter Fabian und Franz Jacob könnten sich hervorragend orientieren, ob es rumpelt oder glatt rollt. Doch sie leben schon lange nicht mehr.
Was lebt und in den vergangenen rund 60 Jahren prächtig gedeiht, ist die Eiche. Sie ist zu einem stattlichen Baum herangewachsen, der am Feldrand viel Ahorn-Konkurrenz bekommen hat.
Mit ihr hat sich der Walter Fabian ein Denkmal gesetzt, denn die Glinder nennen es: die Vati-Eiche.
(Nach einer Vorlage von Walter Schüler, Glinde)