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Heimatgeschichte Die April-Tragödie von Glinde

Am 12. April 1945 hatten die Amerikaner Pömmelte und Glinde eingenommen. Wenige Tage später spielte sich in Glinde eine Tragödie ab.

Von Thomas Linßner 14.04.2020, 01:01

Glinde l In den Städten und Dörfern bestand für die Bevölkerung Kriegszustand mit Ausgehverbot. Es wurden Häuser für amerikanische Artilleristen geräumt, die Dörfer östlich der Elbe beschossen. Orte, die vor dem Brückenkopf lagen, wo noch vereinzelte deutsche Soldaten kämpften.

Den Amerikanern wurde auf der ostelbischen Seite wenig Widerstand geleistet. Lediglich einige deutsche Soldaten verursachten mit Einzelaktionen eine Gefährdung der Orte, wie der Pömmelter Heimatforscher Heinz Warnecke (99) aus eigenem Erleben weiß. Die Amerikaner fackelten nicht lange, wenn sie attackiert wurden. Oft wurden die Gegner dann bei geringstem Widerstand durch amerikanische Bomber und Artillerie „ausgeschaltet“.

Trotz des Kriegszustandes begann sich das Leben auf der westelbischen Seite - also auch in Glinde - zu normalisieren. Die Versorgung der Tiere und die Feldarbeit mussten ja weitergehen, auch wenn gelegentlich auf der ostelbischen Seite Schüsse zu hören waren.

Das Glinder Ehepaar Schmidt legte am 16. April 1945 hinter dem Haus Kartoffeln. Es war ein sonniger Frühlingstag mit 18 Grad. Dieter, ihr einziger Sohn, bekam Besuch von seinem Freund Erich, den er schon acht Tage nicht gesehen hatte. Sie baten, zu Onkel Wilhelm in den Garten gehen zu dürfen, um mit ihm und Sohn Fritz dort zu spielen.

In Zeiten ohne Fernseher und medialer Zerstreuung wollten die Kinder endlich wieder raus. Martha und Hermann Schmidt stimmten dem Wunsch der Jungen zu. Denn sie konnten schon seit acht Tagen Spaziergänger mit Kinderwagen auf dem Damm sehen. Ein Hauch von Alltag schien sich anzudeuten.

Dieter Schmidt war zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt. Am 30. Mai würde er seinen 8. Geburtstag feiern. Zusammen mit Freund Erich Kräuter und den anderen Jungen tobten die Jungen im Garten herum.

Plötzlich detonierten einige deutsche Granaten, die von der ostelbischen Seite abgefeuert wurden. Zuvor hatten die Glinder ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug gesehen, das über dem Ort kreiste. Zwei heimatvertriebene Frauen waren sofort tot.

Dieter Schmidt wurde von seinen schockierten Eltern schwer verletzt gefunden. Medizinische Hilfe eines Arztes war in Glinde nicht möglich.

Ein amerikanischer Offizier sorgte schließlich für den Abtransport des Jungen. Der Siebenjährige wurde nach Barby gebracht, von dort aus in das Calbenser Krankenhaus transportiert, weil die Verletzungen am Hals, Armen und Beinen zu schwer waren.

Martha und Hermann Schmidt suchten ihren Sohn Stunden später in Barby. Es mag an den Verständigungsschwierigkeiten und der extremen Situation gelegen haben, dass die Eltern den Zielort nicht verstanden. Das Calbenser Krankenhaus war voll belegt mit verwundeten amerikanischen Soldaten. Als das Ehepaar schließlich mit dem Fahrrad dort eintraf, war ihr Sohn seinen Verletzungen erlegen. Sie fanden ihn zusammen mit einem gefallenen amerikanischen Soldaten in der Leichenhalle.

Marlies Krafczyk (geb. Schmidt) ist die Schwester von Dieter und wurde 1950 geboren. Ihre Mutter Martha hatte zu Lebzeiten die Kraft, über den tragischen Tod ihres Kindes sprechen zu können. Das war sicherlich eine Form der Trauerbewältigung.

Die 70-Jährige ist heute noch bewegt, wenn sie erzählt, was sie von ihrer Mutter weiß. Wie sollte ihr Vater Hermann die Leiche seines kleinen Sohnes von Calbe nach Glinde transportieren? Kraftfahrzeuge fuhren nicht, auch kein Pferdefuhrwerk war in Sicht. „Mein Vater wollte ihn auf ein Brett binden, damit er auf dem Fahrrad transportiert werden konnte“, erzählt Marlies Krafczyk. Ein mitleidiger alter Mann, der das sah, lieh Hermann Schmidt daraufhin seinen Handwagen.

Auf dem Glinder Friedhof findet man noch heute Dieter Schmidts Grabstein, der am 30. Mai 83 Jahre alt geworden wäre.

Wenn wir solche Geschichten heute, 75 Jahre später, hören, scheint alles Gegenwartswehklagen auf hohem Niveau stattzufinden.