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Rüdiger Meussling, Pfarrer i.R., nimmt sich alter und zerflederter Ausgaben an und rettet sie vor dem völligen Zerfall Kleine Wunderwerkstatt: Alte Bücher werden neu

Von Ulrich Meinhard 05.01.2012, 05:21

Der einstige Pfarrer in Pretzien und Plötzky, Rüdiger Meussling, kann nicht nur predigen, Musiksommer organisieren und Kirchen vor dem Verfall bewahren. Der 72-Jährige rettet jetzt Bücher. Als Jugendlicher hatte er vom Großvater das Handwerk der Buchbinderei gelernt.

Plötzky l "Bei der mitternächtlichen Insel Thule, sagt Olaus Magnus, sey im Jahr 1538 ein Meerwunder gefangen worden von einer unglaublichen Größe und einer solch ungeheuren Leber, dass fünf Fässer damit sind erfüllet worden."

Rüdiger Meussling sitzt in seinem Arbeitszimmer und näht. Was dabei herauskommt, ist allerdings kein Jäckchen für das Enkelkind. Der ehemalige Pfarrer hat sich für seinen Ruhestand ein altes Handwerk zum Hobby erkoren. Der 72-Jährige bringt Bücher wieder in Schuss. Alte Bände sind darunter, wertvolle auch, teilweise sind sie völlig zerfledert. Ein Häufchen Elend aus Leder und Pergament. Der Plötzkyer hat die Buchbinderei in den 1950er Jahren bei seinem Großvater in Arendsee in der Altmark gelernt. Vor gut zwei Jahren besann er sich auf dieses einmal erworbene Können. Sein Arbeitszimmer gleicht einer Buchbinderwerkstatt mit akkurat aufgereihtem Spezialwerkzeug, mit Lederfolien, Papier, Farben und eben Nadel und Faden. Vieles davon stammt noch aus Großvaters Beständen.

"In der Regel nehme ich die Bücher völlig auseinander, Seite für Seite und füge sie dann, unter Bewahrung eventuell vorhandener Inschriften, wieder neu zusammen", erklärt Rüdiger Meussling die aufwändige Vorgehensweise. "Ich mache das wirklich nur als Hobby und nur für Freunde", betont er und lächelt fröhlich: "Ich bin selbst erstaunt, dass ich das noch abrufen kann, was ich vor 50 Jahren gelernt habe."

In Seelenruhe führt der ehemalige Pfarrer den Faden in die vorgegebenen Öffnungen am Buchrücken. Hindurch und wieder hindurch. "Da muss man Geduld haben", sagt er.

Aus einem alten und unglaublich dicken Schinken, den ihm ein Freund mitbrachte, hat Meussling vier Bücher entstehen lassen. Das Buch ist ein wahrer Schatz: im Jahr 1619 erschienen. Es stammt von Ambroise Paré (1510 - 1590), nennt sich "Realienbuch" und beinhaltet praktisch einen großen Teil des Wissens der damaligen Zeit. Die Ökonomie wird darin behandelt, die Medizin, aber auch seltsame Funde und Sichtungen, etwa von Meeresungeheuern. Die Beschreibung "ungeheuer groß" wird häufig verwendet. Bilder sind enthalten, die höchst merkwürdige Wesen zeigen. Der eingangs zitierte Satz stammt aus diesem Realienbuch.

"Hier, sehen Sie, schlechte Arbeit, schief gebunden. Ja, die Buchbinder arbeiteten schon damals im Akkord", zeigt Meussling Verständnis für die unkorrekte Fadenführung. Er macht diese Arbeit jetzt, nach fast 400 Jahren, noch einmal. Und besser. Mit mehr Muße als die Kollegen im 17. Jahrhundert. "Ich höre Bach und lasse mir Zeit", gibt der rührige Altpfarrer einen Einblick in seine Buchbinderarbeit.

Der Einband aus Kalbsleder ist völlig marode und wird ersetzt durch einen neuen aus Schafsleder. Bei einigen Seiten fehlen Abschnitte, als wären sie herausgerissen. "Was weg ist, ist weg. Da kann ich auch nichts machen", zeigt Meussling die Grenzen seines Wunderwerkens auf. Denn es gleicht an ein Wunder, wie er vom Gebrauch beschädigte und von der Zeit fast völlig zernagte Lektüre wieder in ansehnliche Form bringt. "An den vier Bänden habe ich ein Jahr lang gesessen", vermittelt der Freizeit-Buchbinder einen Eindruck vom Aufwand.

Angefangen hatte Rüdiger Meussling vor zwei Jahren mit eigenen alten Büchern, zur Übung. Als nächstes liegt eine Bibel zur Restaurierung in seiner Werkstatt. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert. "Die muss ich neu binden. Hier ist ein Bruch im Rücken", sagt Meussling und fitzelt den Faden in die Öse der Buchbindernadel.