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Jugendliche Stellungnahme zu Einbruch in Glinde

Der schwere Einbruch in ein Glinder Einfamilienhaus war Thema im Ortschaftsrat von Glinde.

Von Thomas Linßner 07.02.2020, 17:03

Glinde l „Sollte irgendwas aus dem Ruder laufen, breche ich die Veranstaltung sofort ab“, stellt Ortsbürgermeister Norbert Langoff (parteilos) gleich zu Beginn dieser außergewöhnlichen Ortschaftsratssitzung klar. Denn das Thema ist brisant und bewegt die Gemüter in dem 280-Einwohnerdorf erheblich. Es ist zu befürchten, dass die Emotionen aus dem Ruder laufen.

Mit rund 60 Anwesenden hat der Bibliotheksraum seine Kapazitätsgrenze erreicht. Immer wieder müssen Stühle nachgestellt werden. Der gesamte Ortschaftsrat ist mit neun Mitgliedern vollzählig. So voll war es hier noch nie bei einer Sitzung.

Nestwärme-Geschäftsführer Remo Kannegießer ist mit seinem Pädagogen und Heimleiter Marcus Bergmann gekommen. Beide bleiben sitzen, wenn sie reden. Es wird länger dauern.

Wirtschaftsjurist Kannegießer spricht vom „Verbrechen an der Familie Sinast“, wenn er über den Vorfall redet. Und er unterstreicht sein tiefstes Bedauern und seine Entschuldigung.

Norbert Langoff stellt die erste Frage: „Was ist nach der Tat zur Sicherheit des Objektes unternommen worden?“ Kannegießer holt weit aus. Das subjektive Empfinden einer Sicherheit bekomme man nie zurück, wie man sie vorher hatte. Man sei von einer Realität eingeholt worden, die sich nicht wegdiskutieren lasse. Auch die zukünftige mentale Belastung der Betroffenen räumt er ein. Dann wird Kannegießer konkret: Es werde nachts eine „Wache“ auf dem Flur sitzen; es würden ungeregelte Rundgänge gemacht. Ein Sicherheitsdienst werde engagiert und das Gelände mit Kameras ausgestattet, die ein hochsensibles Erkennungssystem haben. Auch die Fenster wolle man sichern. Aber nicht, damit keiner illegal verschwindet, sondern um „die Kinder von außen zu schützen“. So sei die Rechtslage. Der Nestwärme-Geschäftsführer unterstreicht das immer wieder.

Man hört das dünne Eis regelrecht knirschen. Er möchte nicht in den Ruch irgendwelcher Überwachungsvorwürfe kommen.

Auch mit der Polizei solle gesprochen werden: Die möge doch bitte ihre täglichen „Durchfahrten“ von vormittags auf die Ankunft des Schulbusses verlegen. Denn die Beschaffung von Dogen erfolge auf dem Weg dorthin oder an der Schule. (Die Täter sollen beim Einbruch komplett zugedröhnt gewesen sein.)

Und: „Das Betreten der Zimmer nachts und die Kontrolle der Anwesenheit ist nach 22 Uhr nicht statthaft“, betont Kannegießer. Der Nachtschlaf der Kinder müsse gewährleistet werden. Ein Raunen geht durch die Besucher. Man hat den Eindruck, dass sie ihren Ohren nicht trauen ...

Jetzt ergreift der betroffene Michael Sinast das Wort, der zusammen mit seiner Frau Anett im Publikum sitzt. Er nennt den begutachteten Schaden: „Wir haben 110.000 Euro Gebäude- und 28.000 Euro Inventarschäden.“ Zum Glück seien das ja „nur“ Sach- und keine Personenschäden. Dann sagt er etwas, das wohl die Wenigsten erwartet hätten: „Ich bin niemandem böse. Weder dem Träger noch ...“, er zögert einen Moment, „noch den Kindern.“ Die seien Opfer ihrer asozialen Eltern und der Gesellschaft. Dennoch kommt er nicht umhin, der „Nestwärme“ einen Vorwurf zu machen: „Es kann nicht sein, dass jemand bei euch vier Stunden weg ist und es keinem auffällt.“

Dies werde sich mit dem neuen Sicherheitssystem ändern, verspricht Remo Kannegießer.

In der weiteren Diskussion tun die Glinder ihren Unmut über gesetzlich vorhandene oder besser nicht vorhandene Strafregularien kund. Es könne doch nicht angehen, dass jemand, der zu schnell Auto fährt, zur Verantwortung gezogen wird, und jugendliche Randalierer nicht.

Jetzt passiert, was zu erwarten war: Die Bürger vergleichen die „Nestwärme“ mit dem ehemaligen Träger, der „Kannenberg Akademie“. Damals seien es noch „schwerere Jungs“ gewesen, die aber durch „Sport und Bestrafung“ im Zaume gehalten wurden. Es gibt Geschichten, als Weihnachtsbäume von Barby bis Glinde auf dem Rücken geschleppt oder Treckerreifen über das Gelände gerollt werden mussten. Vor allem hätte Kannenberg (er ging in Insolvenz) „seine Jungs“ im Dorf integriert.

Remo Kannegießer: „Wir haben das Konzept von Kannenberg eins zu eins übernommen. Allerdings mit einem Unterschied: keine Strafen.“ Die seien nicht zulässig! Was bisher unter Kannenberg in Glinde geschehen sei, wolle er nicht bewerten.

Aufgebrachtes Gemurmel im Raum. Das könne ja nicht funktionieren. Jeder, der sein Kind liebt, zeige ihm, wo die Grenzen sind. Heimleiter Marcus Bergmann versucht den Unterschied zwischen diesen und „seinen“ Kindern klar zu machen. „Wie soll ich die bestrafen, wenn sie schon alles verloren haben?!“

Dennoch werden den Nestwärme-Vertretern „schwammige Aussagen“ und ein „Ferienlager-Tagesablauf“ vorgeworfen und sie immer wieder nach ihrem Konzept und dessen methodischer Umsetzung gefragt. Sei es nicht falsch, Kinder zu betreuen, deren Elternhäuser und Schulen in der Nähe sind und sie somit jederzeit in ihr altes Umfeld zurück könnten? Bei Kannenberg seien die jungen Männer aus dem gesamten Bundesgebiet gekommen, die aus ihrem „schädlichen Umfeld“ heraus gerissen wurden. „Kannenberg hatte gleich sein Konzept in Glinde vorgestellt. Sie haben das nicht getan“, sagt der Glinder Manfred Fabian.

Remo Kannegießer sieht „das Verbrechen“ und die heutige Diskussion als Chance für einen gesellschaftlichen Diskurs. So müsse die Polizei genauso wie das Landesjugendamt ins Boot geholt werden. Vorfälle wie diesen habe es in Deutschland ja nicht zum ersten Mal gegeben. Aber eben selten in dieser Dimension. Wäre die Tat beispielsweise in einer Großstadt wie Magdeburg geschehen, würde man schnell wieder zur Tagesordnung übergehen.

„Ein einfach weiter so darf es nicht geben“, stimmt Kannegießer zu, der von einem Weckruf spricht. Es gehe nicht zuletzt darum, welche Regularien in Einrichtungen wie der Nestwärme zulässig seien. Es gehe um Strafe oder nicht Strafe.

Nach über zwei Stunden scheint alles gesagt zu sein. Norbert Langoff schließt die Versammlung. Er hat sie nicht abbrechen müssen. Die Fragen sind sachlich, konstruktiv und unpolemisch geblieben.