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Tierzucht Geschorene Schafe sind sich fremd

Seit Generationen werden in Barby Schafherden gehalten. In Hochzeiten standen in den Ställen des ehemaligen Volksgutes 12.000 Tiere.

Von Thomas Linßner 27.05.2020, 12:51

Barby l Es geht ruck, zuck: Ein Helfer öffnet das Gatter einen Spalt, um jeweils ein Schaf dem Scherer zuzutreiben. Es dauert keine fünf Sekunden, bis der Vierbeiner, der nicht mal zum Blöken kommt – so verdutzt ist er –, am Boden liegt. Dann surrt die Schafschermaschine, deren Griffteil über eine flexible Welle verbunden ist. Die geübten Scherer aus Zerbst brauchen drei bis fünf Minuten pro Tier, um mit ihrer Arbeit fertig zu sein. Der Stress ist daher für die Schafe relativ gering.

„Schafe müssen mindestens einmal pro Jahr geschoren werden. Mit den erwachsenen Tieren machen wir das im April, Mai“, erklärt Claudia Gerstenberg, die rund 600 Mutterschafe in Monplaisir hält. „Die Wolle muss jetzt runter“, sagt die erfahrene Züchterin, „damit die Tiere im Sommer besser fressen.“ Auch sei es wichtig, um den Lämmern das Säugen zu erleichtern. Sie kommen so besser an das Euter ihrer Mütter heran. Vier bis fünf Kilogramm Wolle sind dran an so einem Schaf.

Apropos fressen: Durch die extreme Trockenheit wurde das Grünfutter besonders im vergangenen Jahr in den Elb- auen knapp. Das belastete nicht nur die Tiere, die jedes Hälmchen abzupften, sondern vor allem die Züchterin.

„Für mich gab es beim Beruf keine Alternative“, lächelt Claudia Gerstenberg (48) dennoch milde. Schon von Kindesbeinen an wollte sie Schäferin werden. Dabei machte der Wohnort ihrer Kindheit sein Schicksalsangebot: Claudia wuchs auf dem Barbyer Volksgut-Hof auf, wo ihr Vater Klaus als Tierzuchtleiter beschäftigt war. „Wir Kinder haben dort zwischen den Tieren gespielt. Das war das Tollste auf der Welt.“ Als Kind half sie dort oft. Ein Teil der Herde stand in jener Scheune, die heute Spiel- und Sporthalle der Reha-Klinik ist. Heute ist die Barbyerin Chefin des Schafzucht-Ökobetriebes (Lammfleisch) im Ortsteil Monplaisir. Die Internet-Plattform „Firmenwissen“ erteilt dazu die Auskunft: „Die Frauenquote im Management liegt bei 100 Prozent.“

Im Durchschnitt liegt die Reproduktionsrate der 600 Mut- terschafe bei 1,5. In der Lammzeit hat Claudia Gerstenberg ab Januar kaum eine ruhige Minute. Zwar bringen die Tiere ihren Nachwuchs relativ unkompliziert zur Welt - ruhiger ist die Züchterin aber, wenn sie in der Nähe ist.

Es sind überwiegend Merino-Fleischschafe. Diese Rasse - die vom Aussterben bedroht ist - zeichnet sich auch durch ihre Wolle aus. Sie riecht nicht, kratzt nicht, kühlt, wenn‘s warm ist, wärmt, wenn‘s kalt ist. Die Fasern sind feiner als das menschliche Haar und besonders weich und elastisch.

Dennoch verdient der Öko-Hof sein Geld mit Lammfleisch und nicht mit Wolle. Denn mit der Einfuhr von ausländischer, meistens australischer Wolle sanken die Preise auf ihren Tiefpunkt.

Wegen der billigen Importe und niedrigen Weltmarktpreise gibt es heute nur noch kleine Herden, die eingekoppelt werden. Wer aufmerksam durch die Auenlandschaft geht, wird es am hohen Gras merken. Jedenfalls, wenn es ausreichend regnet. Wie Claudia Gerstenberg sagt, erziele ein Kilogramm Merinowolle derzeit 90 Cent. Zwei D-Mark waren es Anfang der 1990er-Jahre, in DDR-Tagen sogar 60 Mark.

„Das reicht heute gerade mal aus, um die Scherer zu bezahlen“, winkt sie ab. Haupteinnahmequelle ist die Landschaftspflege, danach kommt der Verdienst mit Lammfleisch.

„Es ist für die Tiere gut, wenn sie von ihrer Last befreit werden“, erzählt Claudia Gerstenberg. Nach dem Scheren werden die Merinos in einen Pferch entlassen, in dem es ziemlich laut zugeht. Derweil die Wolleträger ihrem Schicksal vor der Prozedur noch relativ gelassen entgegensehen, sind die Geschorenen ziemlich aus dem Häuschen. Aufgeregtes Blöken erfüllt den Stall. „Die erkennen sich nicht, sie sind sich ziemlich fremd“, erklärt die Schäferin dieses Verhalten. Es würde eine Weile dauern, bis die Rangordnung der Geschorenen wieder hergestellt sei.

(Vor fünf Jahren durfte sich ein Merino aus Australien eines ungewöhnlichen Titels rühmen. Es war der Weltrekordhalter des dicksten Schafspelzes. Für das fünfjährige Tier hätte sein 40 Kilogramm schwerer Wollmantel jedoch beinahe tödlich geendet.)

Kernige Böcke haben die Schafe in freudige Erwartung zu versetzen. Derweil die Damen der Menge wegen namenlos bleiben, tragen die Kerle Namen: Achim, Christian, Hubert ... Ein Bock ist in der Lage, täglich drei Schafe zu decken. Damit er konditionell dieser Aufgabe gewachsen ist, gibt es Extrakost. Nein, keinen Sellerie ... Rüben, Mais, Roggen - eiweißreiches Futter ist stimulierend.

Fünf Monate sind die so Beglückten tragend. Aber nicht alle. Im Durchschnitt geht ein kleiner Teil leer aus. Der Schäfer nennt sie „güst“. Was irgendwann zur Folge hat, dass der Schlachthof ruft.

Die 48-Jährige setzt heute in bescheidenerem Maße fort, was in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt hatte: Unter der Leitung von Horst Cierpka, der langjähriger Direktor des Volksgutes Barby war, standen im Umfeld der Elbestadt 1988/89 rund 12 000 Schafe in den Ställen. Barby galt vor gut drei Jahrzehnten als einer der führenden Schafzuchtbetriebe der DDR. Ihm folgte Claudias Vater Klaus Gerstenberg.

Die Schafzucht hat in der Elbestadt eine jahrhundertelange Tradition. Was in dem Vorhandensein großer Weideflächen des Elbvorlandes begründet liegt. Schon die Schafbestände des Rittergut-Besitzers Johann Gottfried Dietze, der seit 1801 Pächter der Domäne Barby war, galten weithin als mustergültig. Die Herden sollen so groß gewesen sein, dass es einen berittenen Schäfer gegeben haben soll.