Ruben auf der Walz Darum in die Fremde schweifen
Die Fremde ist für Ruben Geßner zum Zuhause geworden. Er ist auf der Walz. Auch in Hohenerxleben.
Hohenerxleben l Ein junger Mann schlendert Freitagabend über den Hohenerxlebener Heimatfestplatz. Der ist gut gefüllt, gerade beginnt die Musik zum Abendtanz aufzuspielen. Der besondere Gast zieht sofort alle Blicke auf sich. Zumal er mit weißem Hemd, schwarzer Weste und Schlaghose ungewöhnlich gekleidet ist. In Hohenerxleben kennt jeder jeden. Aber wer das ist, weiß niemand. Ursula Pennigsdorf vom Heimatverein traut sich und spricht den Besucher an. Ein wandernder Geselle. „Ich bin Ruben“, sagt der und schaut sein Gegenüber freundlich an. Rubens Augen strahlen, sein Lächeln wirft Falten ins Gesicht. Er nimmt den Hut ab und stellt sich an den Tisch. Schnell entwickelt sich ein Gespräch. Ursula Pennigsdorf stellt den Gast anderen Dorffestbesuchern vor. Bald weiß jeder, wer Ruben ist - und er erzählt den gesamten Abend über seine Geschichte. Von der Walz, die in Hopferstadt/Ochsenfurt südlich von Würzburg vor einem Jahr und sechs Monaten begonnen hat. „Jetzt bin ich fremd und frei und gehe dahin, wohin es mich verschlägt.“ So frei, dass der gelernte Zimmermann auch seinen Nachnamen auf der Walz ablegt – als eine von etlichen Traditionen.
Nach dem Ende seiner Ausbildung zum Zimmermann spielte Ruben mit dem Gedanken, auf Wanderschaft zu gehen. Er kannte das aus der Familie. Die Idee war nicht nur ein Spleen. Seine Klassenkameraden verschlug es in die Welt. Viele hätten bei „Work and Travel“ (Arbeiten und Reisen) ihren Horizont erweitert. Das wollte Ruben auch. Der Geselle machte sich kundig, erfuhr, dass man für sich - „eben frei“ oder gemeldet in Vereinigungen auf der Walz sein kann. Bei Treffen lernte er die Spielregeln der Tippelei kennen. Nach seiner Freisprechung hat er acht Wochen lang probiert, wie das Wandern ist. Danach stand der Entschluss fest. „Ich muss raus!“ Ein anderer Wanderer hat ihn in den ersten drei Monaten begleitet, wie es die Tradition verlangt, und ihn in Regeln und Rituale eingeweiht. „Er erklärte, wie man Arbeit findet, wie man auf Leute zugeht, welche Verhaltensregeln es gibt.“
Sein Leben – seitdem komplett umgekrempelt. Andere in Rubens Alter freuen sich über ihr erstes Gehalt und leisten sich etwa ein Auto. Rubens größte Übung ist derweil, mit dem Nötigsten klar zu kommen. Mit 5 Euro in der Tasche ist er gestartet, mit 5 Euro kehrt er nach drei Jahren und einem Tag zurück. So lange darf er seiner Heimat in einem Umkreis von 50 Kilometern nicht näher kommen, seine Verwandten nicht sehen. Seine Familie sind fortan die Gastgeber, bei denen er sich verdingt oder unterkommt. Seinen Unterhalt verdient er mit Arbeit in allen Orten. Jeden Tag muss ein Schlafplatz gefunden werden. „Jetzt im Sommer geht das auch mal draußen.“ Kein Handy, kein Computer, kein Auto. Laufen oder Trampen – anders wird nicht gereist. „Das funktioniert erstaunlich gut.“ Obwohl doch Autofahrer skeptischer geworden sind. „Wir tragen ja unsere Kluft. Viele erkennen uns, wissen, dass unsere Fahrt eine lange Tradition hat und wir uns an einen Ehrenkodex halten.“ In seinen Wandersachen ist gerade das Nötigste zusammen. In der Jacke aus schwerem Stoff hat er alles in den Taschen verstaut. Wenn er wandert, sind seine Habseligkeiten zu einem Bündel zusammengeschnürt. Noch ein Hemd und Wäsche, Nadel und Faden. Schon einmal habe er sein eines Schuhpaar neu besohlen lassen. Der 21-Jährige zeigt das für ihn wichtigste: Das Wanderbuch. „Hier fasse ich meine Arbeitsberichte und meine Reisenachrichten zusammen“, sagt er. Ruben könnte, wenn er in den Seiten blättert, stundenlang Geschichten erzählen. Von der Reise in die größeren Hansestädte, vom Arbeiten und Überleben in der „ziemlich teuren Schweiz“, von Hamburger Großstadtflair oder von einem Aufenthalt Anfang des Jahres, als es den Zimmermann sogar auf die Philippinen verschlug - er folgte einem Freund und fand auch Arbeit.
Die Station Hohenerxleben wird auch einen solchen Eintrag im Buch bekommen. Ruben hat in Nürnberg den Sohn einer Familie aus dem Staßfurter Stadtteil kennengelernt. Er erfuhr von dessen Hochzeitsplänen und davon, dass noch Hilfe bei den Vorbereitungen für die Gartenparty gebraucht werde. „Da kommt jemand, der mit Holz umgehen kann, gerade recht“, sagt er und lässt sich in das Salzland verschlagen. Einige Tage ist der Geselle im Ort, reist dann weiter in die Nähe von Osnabrück, um einen Meister zu besuchen, bei dem er gearbeitet hat. Drei Monate darf der Wandergeselle an einem Ort bleiben, dann – so fordert es eine weitere Tradition – muss er weiter ziehen. Abschied nehmen, das ist für den jungen Mann also eine Regelmäßigkeit. „Sich verabschieden zu müssen, ist immer schwer. Aber für jedes Auf Wiedersehen gilt etwas, was auch meine Reiseeindrücke insgesamt ausmacht: Das Gute bleibt hängen.“ Schlechte Erfahrungen streift Ruben ab, zu schade sei es, seine Gedanken daran zu vergeuden.
Die positiven Eindrücke überall weckten seine eigene Euphorie. „Ich würde immer wieder auf die Walz gehen“, sagt er. „Ich habe keinen Tag bereut.“ Das Unstete und das Ungewisse gehörten dazu. Ein wenig könne man sich einrichten, ein wenige genüge es auch, sich treiben zu lassen. „Ich plane, aber nicht für Monate im Voraus“, sagt Ruben und berichtet, dass er überlege, wie sich die kommenden Tage gestalten lassen. „Ich brauche die Freiheit der Spontanität.“ Arbeit müsse er finden, damit sein Auskommen für eine gewisse Zeit finden. Die Walz diene aber auch, den eigenen Erfahrungsschatz anzureichern und etwas zu erleben. Der handwerkliche Erfahrungsschatz werde vergrößert, aber auch das Alltagswissen. „Es geht nicht nur ums Arbeiten, sondern auch darum viel kennenzulernen und die Welt für sich zu entdecken.“ Nach der Ausbildung die Schule für‘s Leben.
In der lernt Ruben unheimlich gern. „Schüchtern darf man nicht sein!“, sagt er. Er habe gemerkt, wie die Reise ihn verändert habe „Ich war nicht zurückhaltend. Aber ich gehe jetzt offener auf Menschen zu. Das hat sich auf der Wanderschaft entwickelt.“ Gerade hat Ruben die Hälfte der Walzzeit hinter sich. „Kaum zu glauben, wie schnell das ging. Es gab nie einen Tag, an dem ich gedacht hätte, es geht nicht mehr weiter.“
Wie aber geht es nach der Wanderschaft weiter? „Mal sehen, vielleicht fange ich noch an zu studieren. Und ich suche mir eine Freundin“, sagt der junge Mann und lächelt wieder einnehmend. „Das macht auf der Walz keinen Sinn.“ Ob die Rückkehr in das alte Leben gelingt? „Was ist das alte Leben?“, fragt Ruben. „Ich will keine gemachte Erfahrung missen. Das ist mein Leben. Und ich glaube, dass ich auch immer wieder mal aufbrechen werde.“ Weil die Fremde schon ein bisschen Heimat ist.
> Walz oder Wanderjahre bezeichnen die Zeit der Wanderschaft der Handwerker nach dem Abschluss ihrer Lehrzeit. Sie war seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung eine der Voraussetzungen der Zulassung zur Meisterprüfung. Heute ist sie freiwillig.
> Der Wanderer muss unter 30 Jahre alt sein, unverheiratet und schuldenfrei.
> Heutzutage wandern nicht nur Zimmerleute, auch Dachdecker, Bäcker, Seiler oder Instrumentenbauer - bis zu 43 Berufe kommen zusammen.
> 500 bis 600 Gesellen sind in Deutschland unterwegs.