1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Staßfurt
  6. >
  7. Riemer: "Damit das den Kindern nicht passiert"

Verein Greenbike eröffnet neues Kinder- und Jugendhaus in Staßfurt / Zufluchtsort für junge Menschen mit Notunterkunft und Projekten Riemer: "Damit das den Kindern nicht passiert"

Von Franziska Richter 10.04.2013, 03:18

Benachteiligte Kinder brauchen Unterstützung. Sie sollen das, was Matthias Riemer und seine Freunde vom Greenbike-Verein in ihren eigenen Lebensgeschichten mitgemacht haben, nicht allein durchleben. Deshalb haben die jungen Männer und Frauen in Staßfurt ein Kinder- und Jugendhaus mit Notunterkünften eröffnet.

Staßfurt l Wenn Kinder geschlagen, seelisch misshandelt oder Opfer von Verbrechen werden, ist es grausam, wenn sie das allein durchmachen müssen. Durch diese "Hölle" soll kein Kinder allein gehen. "Ich weiß genau, wie das ist", sagt Matthias Riemer.

"Der Jugendwerkhof - das war das Schlimmste, was man überhaupt erleben kann."

Der Gründer des Vereins Greenbike, der sich für benachteiligte Kinder einsetzt und jetzt ein Kinder- und Jugendhaus in Staßfurt eröffnet hat, hat diese Hölle allein durchlebt. Seine Eltern wurden in der DDR politisch verfolgt. Er kam auf einen geschlossenen Jugendwerkhof, der einem Jugendknast gleichkam. Dort wurde er geschlagen und misshandelt. "Das war das Schlimmste, was man überhaupt erleben krann." In so einer Situation erscheint alles hoffnungslos.

Und solche Situationen machen anfällig dafür, auf die schiefe Bahn zu geraten. Auch Matthias Riemer konnte sich lange Zeit nicht allein aus der inneren Misere ziehen. Nach einem Motorradunfall 1997 wurde er medikamentenabhängig, bevor er sich mithilfe der Sozialarbeit, die er sich von da an zur Lebensaufgabe machte, wieder fangen konnte.

"Damit den Kindern nicht derselbe Mist passiert wie uns", haben er und seine Freunde sich zum Verein Greenbike zusammengetan. Spendenaktionen für kranke Kinder - erst jüngst für Erik aus Lübs -, Projekte und jetzt ein Kinder- und Jugendhaus in Staßfurt sind daraus entstanden.

Seine Freunde vom Verein wissen ebenfalls, wovon sie reden, wenn es um Schicksalsschläge geht. Erfahrungen mit Misshandlungen, Abhängigkeit, Kinderarmut, Krankheit oder Unfällen haben sie gesammelt. Aus diesen Erfahrungen sind sie nun geläutert hervorgegangen. Und durch diese können sie Kinder, die Probleme haben, erst richtig verstehen. "Ein richtiger Sozialarbeiter muss auch selbst schlimme Dinge erlebt haben", sagt Matthias Riemer.

"Sie tun mir einfach leid. Außerdem: Wenn es um Kinder geht, mache ich mit."

Andere Mitglieder des Vereins hat es weniger hart getroffen, sie wollen einfach nur helfen. Cindy Knabe, Mutter von vier Kindern, betreut dreimal in der Woche im neuen Kinder- und Jugendhaus. "Ich wohne in einem Brennpunktviertel in Magdeburg. Mein Sohn bringt oft Klassenkameraden mit nach Hause, die sonst auf der Straße stehen würden. Die nehme ich tagsüber auf, weil sie mir einfach leid tun", erklärt sie. Besonders die Spendenaktion für Erik aus Lübs hat sie bewogen, dem Greenbike-Verein beizutreten. "Außerdem: Wenn es um Kinder geht, mache ich mit", sagt sie.

"Viele Menschen spenden uns spontan etwas. Das ist wirklich beeindruckend."

Zusammen mit anderen Frauen des Vereins hat sie die gemietete Wohnung in der Löderburger Straße, die alte Videothek, als Kinder- und Jugendhaus eingerichtet. "Über unsere Facebook-Seite haben wir viele Spielsachen bekommen. Wir sind ja immer noch auf der Suche nach Spenden. Bis jetzt kommen noch Menschen spontan vorbei und geben uns Spielsachen, Kleidung und Möbel. Das ist wirklich beeindruckend", erzählt Cindy Knabe. Bis zur Eröffnung am 22. März standen ein Gesellschaftsraum, eine Küche, eine Kindertoilette, ein komplettes Spielzimmer und zwei Not-Schlafzimmer bereit.

Auch Cindy Knabes Eltern beteiligen sich. "Na klar, bin ich dabei. Es macht doch Spaß. Außerdem, was soll man als Rentner nur zuhause sitzen", erklärt Herbert Fraedrich seine Mitarbeit und die seiner Frau Karin. Zusammen mit Cindy Knabe betreut er die Kinder am Nachmittag. Auch Anja Newesil aus Schönebeck ist regelmäßig nachmittags vor Ort. Sie holte sich den Verein Greenbike als Unterstützung, als ihr Neffe einen schweren Unfall hatte und Spenden brauchte.

Die zwei Not-Schlafzimmer stehen für Kinder, Jugendliche oder auch junge Mütter oder Väter mit ihren Kindern bereit. Hierher sollen sie in argen Notsituation "flüchten" können - wenn es zuhause heftige Auseinerandersetzungen gibt, wenn sie nicht weiter wissen oder wenn sie mit Drogen, Arbeitslosigkeit oder der eigenen Psyche zu kämpfen haben.

"Wir wollen nicht, dass Kinder und Jugendliche in Krisensituationen auf der Straße stehen."

"Wir wollen vermeiden, dass die Kinder und Jugendlichen dann auf der Straße stehen", erklärt Cindy Knabe. "Nach den aktuellen Bestimmungen dürfen wir sie zwar nur bis zu 24 Stunden in Obhut nehmen, aber das reicht wenigstens für eine Übernachtung und dafür, dass wir gemeinsam den Gang zu den Behörden oder Beratungsstellen machen."

Ist die häusliche Situation einmal so, dass Kinder vernachlässigt, missachtet oder gar geschlagen werden, könne man als Sozialarbeiter gegen die Gesamtsituation kaum etwas tun. Nur in dem Moment müsse man da sein für die jungen Menschen, meint Matthias Riemer. "In Krisensituationen muss man das Kind oder den Jugendlichen aus der Situation erst einmal herausnehmen. Man muss sie beim Fallen wieder auffangen und ihnen den Prozess des Fallens erklären."

Matthias Riemer war bereits als Sozialarbeiter tätig und will demnächst seinen Erzieher machen. Daher weiß er mit Kindern umzugehen, die in schwierigen familiären Situationen leben, die psychisch oder seelisch krank sind, ADHS haben oder straffällig geworden sind.

Auch Kinder mit aggressivem Verhalten kann er betreuen. "Wenn ein Kind durchdreht, muss man die Oberhand behalten und sich durchsetzen", erklärt er. Respekt sei dabei wichtig. Deshalb macht er klare Ansagen, wenn es nötig ist. Kinder und Jugendliche, die ein schweres Schicksal hinter sich haben, brauchen Halt. "Ich bin deshalb der Meinung, die Kinder müssen die Hilfe auch annehmen. Ich mache mich nicht zum Idioten vor ihnen und bettele sie an, mal bitte lieb zu sein."

"Ihr könnt gerne kommen, aber ihr müsst euch aktiv an den Projekten beteiligen."

Daher das Prinzip im Kinder- und Jugendhaus: "Ihr könnt gerne kommen, aber ihr müsst euch aktiv an den Projekten beteiligen", so seine Einladung an alle jungen Leute aus Staßfurt und dem ganzen Salzlandkreis. Das Kinder- und Jugendhaus soll kein Aufenthaltsraum zum Rumhängen und Trinken werden, sagt er.

Über ihre Art und Weise der Sozialarbeit sagt Cindy Knabe, es müsse ein Verhältnis auf Augenhöhe mit den Kindern zustande kommen. Eine lockere Art ohne Bevormundung ist ihre Philosophie. "Wenn Kinder in Notsituationen oder mit Problemen zu uns kommen, werden sie nicht gleich mit Fragen gelöchert. Sie sollen erstmal ankommen." Das Kind müsse respektiert werden. "Einfach furchtbar, wie manche Menschen mit Kindern umgehen, so von oben herab und verachtend. Das darf nicht sein."

Dennoch richtet sich das Kinder- und Jugendhaus nicht nur an Kinder und Jugendliche mit Problemen. Alle von 0 bis 27 Jahren sind eingeladen, um die Nachmittage gemeinsam zu verbringen. Dafür steht täglich von 16 bis 18 Uhr etwas anderes auf dem Programm (siehe Infokasten). Auch Musiktherapie ist in Planung.

Greenbike besteht seit März 2011 als eingetragener Verein. Als Motorradfahrer dachte sich Matthias Riemer, pro gefahrenen Kilometer einen Cent für Kinder zu spenden. Daher auch der Zusatz im Vereinsnamen "Drive for Kids" (Fahren für Kinder).

Mit dem Kinder- und Jugendhaus will Greenbike später einmal freier Träger der Jugendarbeit werden. Dafür schulen die Vereinsmitglieder derzeit in pädagogische Berufe um. Bis jetzt dürfen nur fünf Kinder pro Person betreut werden. Wenn die Vereinsmitglieder ihre Ausbildungen gemacht haben, können sie später einmal mehr Kinder pro Person betreuen, aber auch finanziell von den Ämtern unterstützt werden.

"Wir sind gerade in Gesprächen mit dem Jugendamt. Bis Ende des Jahres wollen wir das hinkriegen", erklärt Matthias Riemer. Derzeit wird ein Ein-Euro-Jobber gesucht.