Amtsgericht Seniorin aus Barby verschweigt monatelang Tod der Tochter
Eine 85-jährige Frau aus Barby sitzt auf der Anklagebank. Sie hat über Monate verschwiegen, dass ihre Tochter tot ist.
Schönebeck/Barby. Es ist ein skurriler Fall, mit dem sich Strafrichter Eike Bruns, Staatsanwaltschaft und ein Pflichtverteidiger im Schönebecker Amtsgericht beschäftigen. Angeklagt ist die 85-jährige Inge Müller (Name geändert) aus Barby. Die Staatsanwaltschaft wirft der Seniorin Betrug vor. Über mehrere Monate habe sie weiter Pflegegeld von einer Versicherung bezogen, obwohl die zu pflegende Person, eine von Inge Müllers Töchtern, schon längere Zeit verstorben war.
„Der Tod ist spätestens im Juli 2019 eingetreten, doch Frau Müller teilte dies niemandem mit. Erst im Mai 2020 fiel dies auf“, so der Staatsanwalt. Zwischen zehn und elf Monate wurde der Tod der Tochter demnach verschwiegen – und der Leichnam nicht beigesetzt.
Verwesung des Leichnams
Und über einen so langen Zeitraum passiert natürlich auch einiges mit dem toten Körper. Er verwest zunehmend. „Je nach Körperzustand der Person, der Temperatur, den vorhandenen Insekten (oder nicht Insekten) reichen die Begleiterscheinungen von Austrocknung bis hin zum Zerfließen oder irgendwas dazwischen“, teilt Kriminalbiologe und Forensiker Mark Benecke auf Volksstimme-Anfrage mit.
Die Befragung der 85-jährigen Frau gestaltet sich derweil schwierig. Das Hörvermögen der Seniorin ist arg eingeschränkt. Jede Frage und jeden Satz muss Richter Bruns langsam und laut wiederholen, nur um dann doch wieder von Inge Müller zu hören: „Ich verstehe hier gar nichts.“
Probleme bei Kommunikation
Ein Hörgerät habe sie auch nicht, erklärt Inge Müllers zweite Tochter, die während der Verhandlung neben ihrer Mutter sitzt und gewissermaßen dolmetscht, alles Gesagte für sie wiederholt und ihr erklärt.
Doch neben diesen Kommunikationsschwierigkeiten gibt es noch ein Problem. Inge Müller scheint die ganze Situation nicht wirklich zu verstehen. Während der Verhandlung beharrt sie immer wieder darauf: „Meine Tochter ist doch erst seit vier Wochen tot.“
Uhr malen
Strafrichter Bruns kommt von seinem Platz zur Anklagebank, wo Pflichtverteidiger, Inge Müller und Müllers Tochter sitzen. „Frau Müller, malen Sie mir doch bitte mal eine Uhr auf, die drei Uhr zeigt“, fordert er die Barbyerin auf. „Was soll ich machen? Ich verstehe den Mann nicht“, klagt die 85-Jährige. „Du sollst eine Uhr malen. Eine Uhr mit Ziffernblatt, die auf drei zeigt“, erklärt ihr ihre Tochter.
„Ach, mach du das“, winkt die Seniorin ab. „Nein, du musst das jetzt machen“, beharrt ihre Tochter. Also zeichnet Inge Müller schließlich ein Ziffernblatt mit Zeigern, die drei Uhr zeigen.
„Wissen Sie, wer Bundeskanzler oder -kanzlerin ist?“, fragt Bruns weiter. „Merkel“, antwortet Inge Müller. „Und welches Jahr haben wir?“ „Zweitausend...“, sie zögert. „Ach, weiß ich nicht.“
„Und Sie sagen, dass Ihre Tochter erst vor vier Wochen gestorben ist?“, fragt Bruns. „Ja. Ich habe sie über 50?Jahre lang gepflegt.“
„Frau Müller, würden Sie sich mal von einem Arzt untersuchen lassen?“
„Nein, ich bin gesund. Ich brauche das nicht“, sagt die Seniorin trotzig.
Untersuchung der Angeklagten
Richter Bruns setzt die Verhandlung aus. „Ihre Mutter ist zeitlich nicht vollständig orientiert. Das könnte ein Hinweis auf Demenz sein. Bringen Sie sie dazu, dass sie sich untersuchen lässt. Wenn sie das nicht zulässt, dann muss das ein Gutachter während der Verhandlung machen – und das sind keine idealen Bedingungen dafür“, gibt er Inge Müllers Tochter mit auf den Weg.
Um die Verhandlung gegen Inge Müller fortsetzen zu können, müsse nun also zunächst ein forensisch-psychiatrisches Gutachten erstellt werden. Es bleibt die Frage: Handelte Inge Müller bewusst und mit Betrugsabsicht, um weiter Pflegegeld zu beziehen, oder nahm sie den Tod ihrer Tochter gar nicht bewusst wahr?