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ArmutSchiefe Blicke und schräge Sprüche

Judith Zürcher und Monique Reimer haben Armut erlebt. In der Volksstimme erzählen sie davon.

Von Thomas Pusch 13.04.2019, 01:01

Stendal l Die Armut hat viele Gesichter. Es gibt mehr als das Klischee der vernachlässigten Menschen, die auch sich vernachlässigen, die schon vormittags Alkohol trinken, zu viele Kinder haben und von denen nicht wenige denken, dass sie irgendwie selbst schuld daran sind. Die Armut kann auch junge Frauen erwischen, die gut im Leben stehen, einen Plan haben. Dazu gehört auch, eine Familie zu gründen. Dann kommt das Kind, der Partner geht und das Leben wird auf einmal schwieriger. Monique Reimer und Judith Zürcher können eine Menge davon erzählen.
Als junge Mutter wagte Judith Zürcher den Schritt ins Studium, belegte Rehablitationspsychologie. Natürlich sei es von Anfang an ein anderes Studieren gewesen, als für jemanden, der kein Kind hatte. So richtig schwierig wurde es für sie allerdings, als sie wegen mehrerer Krankenhausaufenthalte ihres Sohnes länger fürs Studium brauchte, als es sich das Bafög-Amt vorgestellt hatte. „Man muss sich da richtig entblößen, fühlt sich an die Wand gestellt“, beschrieb sie die Amtsbesuche. Das Geld wurde ihr versagt, ihr nächster Weg führte zur Agentur für Arbeit. Doch die war nicht zuständig. „Ich hätte mich exmatrikulieren müssen, um von dort Leitungen beziehen zu können“, erklärte sie.
Doch das Studium schmeißen, nur um sich etwas zu essen kaufen zu können? In der Tat habe sie mehrmals davorgestanden, so verzweifelt sei sie gewesen. Es schien verlockend zu sein, gar nichts mehr zu machen, Hartz IV zu beziehen, einen regelmäßigen Geldeingang zu haben. Schlaflose Nächte, das Gefühl, dass niemand zuständig ist und sie selbst so ein fiktiver Buchtitel - Die individuelle Nummer im Labyrinth der Bürokratie. Aber sie biss die Zähne zusammen, hatte auch Unterstützung von der Familie und schloss das Studium erfolgreich ab. Über die nichtgezahlten acht Monate Bafög liegt sie noch heute mit dem Amt im Clinch.
Auch Monique Reimer musste mehrere Monate ohne Leistungen vom Amt überbrücken. Bürokratische Hürden standen im Weg, einst hatte sie Gewerbe angemeldet, es aber nie betrieben. Alle geforderten Unterlagen einzureichen schien schier unmöglich. „Wenn etwas ungewöhnlich ist, kommen die Ämter damit nicht zurecht“, ha sie festgestellt. Die fehlende Arbeitsbescheinigung eines ehemaligen Arbeitgebers sorgte für weiteres Ungemach.
Auch wenn sie arbeitslos war, wollte sie sich dennoch neu orientieren, von der freien Wirtschaft sollte es in den sozialen Bereich gehen. Sehr zum Unmut mancher aus ihrem Umfeld. „Da wurde mir nahegelegt, jeden Job anzunehmen, lieber putzen zu gehen, als gar nichts zu tun“, erzählte sie. Doch das fand sie ungerecht, warum sollte man als Arbeitsloser nicht auch das Recht auf Selbstverwirklichung haben, wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Es müsste doch die Freiheit, das Verständnis und Unterstützung geben, um die kommenden Arbeitsjahre ohne Überlastung zu überstehen. Es klappte mit dem Wechsel, jetzt ist sie bei der Freiwilligenagentur.
Vieles findet sie ungerecht, gerade auch im Umgang mit Alleinerziehenden. „Ich will keine Vorteile haben, einfach nur Gleichbehandlung“, forderte sie. Doch auch da sei es wieder das Umfeld, das manchmal komisch reagieren. Wieso man sich den das ein oder andere leiste, wie gehe das denn? „Da zwacken dann eher wir Mütter etwas von unseren Bedürfnissen ab, um den Kindern etwas zu bieten“, sagte Judith Zürcher. Schon bei der Armutskonferenz des Landkreises im Herbst vergangenen Jahres war festgestellt worden, dass Mütter in schwierigen Situationen alles dafür tun würden, dass ihr Kind von der Situation nicht belastet wird.
Sie selbst haben es auf der anderen Seite schwer, Entlastung zu finden. Zürcher und Reimer haben Glück gehabt, ihre Familien waren Unterstützung für sie, doch Einschnitte haben auch sie gespürt. „Du gehst nicht mehr auf jeden Geburtstag, denn ein Geschenk kannst du nicht kaufen und ohne willst du da nicht auftauchen“, nennte Monique Reimer ein Beispiel. Beim Kindergeburtstag sei das anders gewesen, da sei der Nachwuchs mit einem Geschenk zur Party geschickt worden. Einen Abbau der bürokratischen Hürden, möglicherweise eine Institution, die durch den Dschungel lenkt oder eine Beratung, die nach der Trennung die wichtigsten Schritte aufzeigt, das würden sie sich wünschen.
Und dass die Frauen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie sie waren, genausoviel Durchhaltevermögen zeigen, stark bleiben. „Hand in Hand“ heißt ein neues Projekt der Freiwilligenagentur. Als neue Zielgruppe wurden die Alleinerziehenden ausgewählt. In Stendal gebe es nämlich noch kein aktives Netzwerk, auch nicht in der Nähe.
Ein erstes Treffen findet am Mittwoch, 24. April, ab 9 Uhr bei einem Frühstück in der Kleinen Markthalle an der Ecke Hall-/Karlstraße statt. Dort sind nicht nur Alleinerziehende, sondern auch alle Interessierten willkommen. Am darauffolgenden Montag, 29. April, gibt es an gleicher Stelle von 16.30 bis 17.30 Uhr ein Treffen, das Alleinerziehenden vorbehalten ist. Weitere Informationen und Anmeldungen gibt es per Mail an reimer-fa-altmark@gmx.de
Waren die Situationen auch oftmals nicht ganz leicht, die Verzweiflung groß, die Belastung schwer, eines ist den beiden wichtig: auf ihre Kinder, die 34-jährige Judith hat einen sechsjährigen Sohn, die 36-jährige Monique zwei Jungen im Alter von zwei und sieben Jahren, möchten sie auf keinen Fall verzichten. Sie schwärmen von einem tollen Verhältnis zu ihrem Nachwuchs und sind sich einig: „Die Jungs, die sind uns richtig gut gelungen“.