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Asylpolitik Abschiebung in Stendal wurde abgebrochen

Rechtsanwalt kritisiert Vorgehen von Polizei und Ausländerbehörde bei geplatzter Abschiebung von sechsköpfiger Familie in Stadtsee.

Von Bernd-Volker Brahms 01.11.2018, 00:01

Stendal l Der 32-jährige Balaudi Juspadzhaev und seine vier minderjährigen Kinder wurden am Freitag jäh aus dem Schlaf gerissen. Um 3.30 Uhr stürmten 14 Polizisten die Wohnung in Stendal in der Kurt-Schumacher-Straße. Ohne Vorwarnung war die Wohnungstür in der sechsten Etage des Wohnblocks mit einem Rammbock aufgestoßen worden.

Er sei in ein Zimmer gedrängt worden, sagt Balaudi Juspadzhaev. Sieben mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten hätten ihn umringt. Man habe ihn immer wieder gefragt, wo er sein Messer habe, erzählt er. Im Nebenzimmer seinen die vier Kinder (2, 3, 5 und 6 Jahre) aufgewacht und hätten fürchterlich geweint. Einer von zwei Jungs ist schwerstbehindert und leidet unter starker Epilepsie. Er habe die Polizisten gebeten, dass er zu seinen Kindern dürfe, um sie zu beruhigen, sagt Juspadzhaev. Das sei ihm verwehrt worden.

Neben den Polizisten waren auch zwei Sozialarbeiter, zwei Mitarbeiter der Ausländerbehörde sowie ein Amtsarzt bei dem Einsatz dabei, teilte der Landkreis Stendal auf Nachfrage mit. Die Familie sollte an diesem Tag nach Russland abgeschoben werden. Ein Flieger für einen Sammeltransport in Leipzig stand dazu bereit. Abgebrochen wurde die Abschiebung, weil die 30-jährige Mutter nicht zugegen war. Sie befand sich zu dem Zeitpunkt in ärztlicher Behandlung – und ist es immer noch. Sie ist in Uchtspinge untergebracht. Es bestehe Suizidgefahr, sagt Balaudi Juspadzhaev.

„Das war völlig unverhältnismäßig“, sagt Rechtsanwalt Frank Seiler aus Stendal, der die Familie juristisch vertritt. Man sei vorgegangen, als wenn es sich um Terroristen handele. Dabei habe die Familie, die seit mehreren Jahren in Stendal lebt, sich nichts zuschulden kommen lassen. 2013 war Balaudi Juspadzhaev mit seiner damals schwangeren Frau sowie dem schwerbehinderten einjährigen Sohn über Polen nach Deutschland gekommen. Die Familie, die aus Tschetschenien stammt, hatte zunächst Asyl in Polen beantragt und war dann doch nach Deutschland gekommen.

Sicherlich sei es richtig, dass seit Anfang des Jahres 2018 ein rechtskräftiges Urteil für eine Abschiebung vorliege, sagt der Rechtsanwalt Seiler. Trotzdem müsse der Staat sich auch menschlich verhalten, wenn es um die Abschiebung gehe. Das sei in diesem Fall völlig daneben gegangen. „Das hätte man ganz ruhig machen können“, sagt er.

Aus seiner Sicht sei es mittlerweile bei Gericht ein Lotteriespiel geworden, ob ein Verfahren positiv beschieden werde oder nicht. Insbesondere die Tatsache, dass die Familie ein schwerbehindertes Kind habe und dieses in Deutschland – im Gegensatz zu Rußland – gut versorgt werde, rechtfertige aus seiner Sicht die Anerkennung des Bleiberechtes, sagt Seiler. Er werde noch gucken, wie er der Familie in den kommenden Wochen helfen könne. Möglicherweise werde er auch noch eine Beschwerde einlegen.

Nach Angaben des Landkreises habe bei der Erstürmung der Wohnung der Familie eine besondere Gefahrenlage bestanden. In dem Haus, in dem die Familie lebt, gebe es 44 russische Staatsangehörige mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Es habe die Möglichkeit bestanden, dass es eine Solidarisierung der Landsleute gibt, wenn die Familie abgeholt werden soll. Bei einem Briefing, an dem die Polizei, die Ausländerbehörde sowie Sozialarbeiter beteiligt waren, habe man sich dazu entschlossen, die Tür mit einem Rammbock aufzustoßen.

Im Übrigen sei die Flug- und Reisefähigkeit des behinderten Kindes durch den amtsärztlichen Dienst mit Bedingungen bestätigt worden, heißt es vom Landkreis. Der Volksstimme liegt dagegen ein Gutachten einer Stendaler Allgemeinmedizinerin von Juni dieses Jahres vor, die zu dem Urteil kommt: „Eine Abschiebung mit daraus resultierenden Stress und Lärm zum Beispiel am Flughafen und im Flugzeug ist unbedingt zu vermeiden und kann lebensbedrohliche Situationen hervorrufen.“ Der schwerbehinderte Junge sei auf einen Rollstuhl, die Hilfe der Eltern sowie Medikamente angewiesen – und zwar lebenslang. „Ich kann hier nicht weglaufen“, sagt ein verzweifelter Balaudi Juspadzhaev in ganz passablem Deutsch. Er würde zu gerne arbeiten wollen, sagt er. Von einer Firma in Berlin habe er bescheinigt bekommen, dass diese ihn beschäftigen würde. Dass habe alles nicht interessiert bei den Asylanträgen. Mit Sport im Fitnessstudio halte er sich fit. Einen Deutschkurs habe er leider nie bekommen, bedauert er.

Der Landkreis hätte die Familie liebendgerne auf freiwilliger Basis ausreisen sehen. Am 10. Juli dieses Jahres habe es, eine Beratung dazu gegeben. Dies sei abgelehnt worden. „Das hat insbesondere mit dem Gesundheitszustand des Jungen zu tun“, sagte Rechtsanwalt Seiler. Er habe die Familie beraten. Er selbst wolle nicht nach Tschetschenien zurück, sagt Balaudi Juspadzhaev. Er sei dort Polizist gewesen und sei in verachtende Situationen geraten. Er habe sich an willkürlichen Gewalttaten beteiligen sollen. Ihm selbst seien insgesamt 13 Knochen gebrochen worden.

Kurios ist das, was im Juni 2017 in der Klageabweisung zum Asylverfahren der damals dreijährigen Tochter Samira steht: „Die Klägerin ist in der Bundesrepublik Deutschland geboren und trägt keine Umstände vor, die in Bezug auf ihre Person die Aufnahme eines in ihrem Heimatland drohenden ernsthaften Schadens begründen könnten.“

Bereits im März berichtete die Volksstimme über eine abgebrochene Ausweisung einer syrischen Familie, die in Seehausen lebte. Sie sollte nach Estland zurückgeführt werden. Auch dort war nachts überfallartig in eine Wohnung eingedrungen worden. Vor Ort wurde festgestellt, dass eine Einspruchsfrist nicht berücksichtigt worden war. Die Familie ist mittlerweile abgetaucht, wie es vom Landkreis heißt.

Auch vier Tage nach dem 20-minütigen Polizei-Einsatz in der Wohnung seien die Kinder noch immer völlig verstört, sagt der Vater Balaudi Juspadzhaev. Sie würden ständig weinen. Er hofft immer noch, dass sich alles zum Guten wendet. Der Krankenhausaufenthalt der Frau gibt noch Aufschub.

Seit Jahresbeginn gab es bis Mitte September im Landkreis Stendal laut Behörde 16 Abschiebungen und 14 freiwillige Ausreisen.