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FluchtfilmMit Nordwind in den Westen

Günter Wetzel, einer der Ballonflüchtlinge von 1979, kam im Stendaler Uppstall-Kino mit dem Publikum ins Gespräch.

Von Thomas Pusch 20.02.2019, 00:01

Stendal l „Sind wir im Westen?“ „Nein, in Oberfranken.“ Mit diesem Dialog endet die Flucht der Familien Wetzel und Strelzyk aus der DDR im Film „Ballon“. Im Saal 3 des Uppstall-Kinos ist ein Aufatmen zu spüren. Gur zwei Stunden hatte das Publikum eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle durchgemacht – die erste gescheiterte Flucht miterlebt, die Dauzmen gedrückt, dass die Familien ihren zweiten Ballon fertigbekommen, bevor die Stasi sie erwischt hat und in einem atemberaubenden Endspurt mit den Thüringern gebangt, dass sie im Heißluftballon mit Nordwind schneller sind als die NVA im Hubschrauber. Dem sonst im komödiantischen Fach produzierenden Michael „Bully“ Herbig (Der Schuh des Manitou, Traumschiff Surprise) ist ein Meisterwerk gelungen.
Der Meister selbst hatte vor Beginn des Films auch das Stendaler Publikum begrüßt – zumindest per Videobotschaft. Das Besondere an diesem Abend ist aber, dass Theaterleiter Günther Tyllack den Zeitzeugen Günter Wetzel eingeladen hat. Der wird mit Applaus begrüßt, als nach dem Abspann das Saallicht angegangen ist. 24 Jahre alt ist er bei der Flucht im September 1979 gewesen, doch die Erinnerungen sind noch ganz präsent. Nicht nur, weil er den Film bereits zehnmal gesehen hat, der ihn „immer noch mitnimmt“. Damit spricht er vielen auf den weichen roten Sesseln, die während des Films zu heißen Stühlen geworden waren, aus der Seele. Manche gestehen, dass sie sich erst mal nicht dazu in der Lage sehen, eine Frage zu stellen, das Gesehene erst mal sacken lassen müssen.
Günther Tyllack fungiert als Eisbrecher, stellt die erste Frage, nämlich die danach, wie authentisch der Film denn sei. „Sehr, Bully hat das gut gemacht“, lobt Wetzel. Ein wenig zögerlich sei er gewesen, als er 2012 von Herbig erstmals angesprochen worden ist. Nicht weil er es dem Bayern nicht zugetraut hätte. Vielmehr hatte ihn die amerikanische Verfilmung, die unter dem Titel „Mit dem Wind nach Westen“ 1981 in die Kinos gekommen war, sehr geärgert. Die habe so gut wie nichts mit dem tatsächlich Geschehenen zu tun. Doch Bully hat die Zeitzeugen von Anfang an in seinen Film einbezogen.
Was Wetzel auch nach dem zehnten Mal am Film mitnimmt, sind die Methoden der Stasi. „Nicht alles, was gezeigt wird, ist in unserem Fall konkret passiert, aber es ist alles realistisch“, erklärt er. Und wehrt sich aber auch gegen einen Vorwurf, dem sich viele DDR-Bürger nach der Wende von Westdeutschen ausgesetzt gesehen haben, nämlich den, dass alles Spitzel gewesen seien.
Als Stasi-Oberstleutnant Seidel fragt, ob denn in einer der Familien viel genäht werde, verrät sie eben nicht, dass sie von Peterchen Wetzel weiß, dass sein Vater sehr viel näht, sondern sagt: „Natürlich wird genäht, Fahnen und Wimpel zum 30. Jahrestag unserer Republik, da gibt es viele Engagierte, darauf kann man doch stolz sein.“
Das Ministerium für Staatssicherheit ist hinter den beiden Familien auch im Westen hinterher. „Meine Stasiakte umfasst 2400 Seiten, darin steht auch, dass drei westdeutsche IMs in Naila auf uns angesetzt waren“, erzählt Wetzel. Einer davon habe sogar in dem Autohaus gearbeitet, in dem Wetzel als Kfz-Meister tätig war.
Ansonsten seien sie von der bayerischen Bevölkerung gut aufgenommen worden, beantwortet er eine weitere Frage aus dem Zuschauersaal. „Wir sind um 3 Uhr morgens gelandet, um 5 Uhr hatten wir bereits Wohnungen“, nennt er ein konkretes Beispiel der Unterstützung. Bekleidung sei ebenso schnell organisiert worden, obwohl es Sonntagfrüh war. Im Abspann ist zu sehen, dass die Flüchtlinge vom damaligen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß empfangen werden. „Der hat uns begrüßt mit ,Hallo Fliegerkameraden‘ und dann eine halbe Stunde mit uns geplaudert“, schildert Wetzel.
Ganz am Ende des Films sieht das Ehepaar Strelzyk Hans-Dietrich Genschers Ansprache auf dem Balkon der Prager Botschaft. Tränen der Rührung fließen. Für Günter Wetzel und seine Familie ist es aber keine Option gewesen, nach Thüringen zurückzukehren. Ihr Haus wurde städtischer Besitz, dann an einen Stasi-Offizier verkauft. „nach der Wende hat er ein Fuhrunternehmen eröffnet, ging pleite und das Haus ist in der Konkursmasse untergegangen“, erklärt Wetzel. Familie Strelczek ist nach der Wende wieder nach Pößneck zurückgekehrt. Beide Familien haben sich zu jenem Zeitpunkt ohnehin schon lange entzweit. Erst seit der Filmpremiere gibt es wieder zarte Kontakte.
Nach einer Dreiviertelstunde ist die Fragerunde beendet. Wetzel hat noch die Zuschauer aus zwei weiteren ausverkauften Vorstellungen an jenem Abend vor sich. Schnell weist er noch für weitere Informationen auf seine Internetseite www.ballonflucht.de hin, wird dann mit langem Applaus von den Zuschauern aus dem Saal verabschiedet. Beim Hinausgehen unterhalten sich drei Damen. „Ich hätte mich das nicht für eine Million getraut“, meint die eine. „Natürlich haben wir über vieles gemeckert, aber weggehen, das war doch nie ein Thema“, sagt eine andere. Alle drei nicken.