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Gassi gehen Abenteuer Tierheimhund

Rottweiler Ron aus dem Tierheim Stendal in Borstel hat seine Macken und viel Energie. Eine Wohnung hat er auch schon "zerlegt".

Von Mike Kahnert 16.02.2020, 08:00

Stendal/Borstel l Der Geruch von Hundefutter liegt in der Luft, wenn man das Gittertor des Tierheims Stendal in Borstel öffnet. Der erste Zwinger gehört Rottweiler Ron. Hund, Spielkamerad, aber auch Blutspender. Miriam Apel geht heute mit ihm Gassi.

Aber wer führt hier wen? Der schwarze Rüde Ron wiegt 40 Kilogramm, das meiste davon Muskelmasse. Die junge Frau in lila Wollmütze und buntem Schal wiegt bei 1,62 Metern Körpergröße 50 Kilogramm – gerade einmal zehn Kilo mehr.

Die 27-Jährige aus Seehausen betritt den Zwinger und muss mit dem Gleichgewicht kämpfen, als der Rüde sich zur Begrüßung an sie kuschelt. Apel legt ihm einen Maulkorb an. „Ron trägt den Maulkorb nur zur Vorsicht“, sagt sie. Er habe sehr viel Energie und wenn er früher etwas aufgeregter war, dann hat er auch mal spielerisch an einem Arm geknabbert. Heute mache er das nicht mehr, aber Sicherheit geht vor, sagt Apel.

Ron ist seit August 2018 im Tierheim. Geboren wurde er im Jahr 2016 oder 2017, verrät der Informationstext an seinem Zwinger.

Das Geschirr ist angebracht, die blaue Leine befestigt. Die ersten Meter schnüffelt Ron noch aufgeregt an jedem Strauch. Miriam Apel kennt das. Sie geht mindestens einmal die Woche mit Ron Gassi. Der Weg führt an parkenden Autos vorbei. In Autos steigt Ron seit einem Blutspendetermin nicht mehr gerne, sagt die Seehäuserin.

„Es wurde ein großer Hund gesucht“, sagt die 27-Jährige. Die 12-Jährige Kira, ein Labradormischling, litt an einer Blutkrankheit. Eine Bluttransfusion sollte ihr das Leben retten, sagt ihr damaliger Besitzer und heutiger Bürgermeister von Osterburg Nico Schulz. Apel war gerade im Tierheim. Die Frage stand im Raum, welcher Hund genommen wird. „Wir guckten uns alle im Tierheim an und, naja, Ron ist groß“, erzählt sie.

Kurze Zeit später in der Praxis war der Rottweiler ruhig und begrüßte alle wie alte Freunde. Für seine Kastration war er schon einmal dort. Doch als er auf dem Tisch zur Blutabnahme lag, wurde es ihm unangenehm. Drei Personen mussten den Hund festhalten. Ron hat es überstanden. Für Kira reichte es am Ende nicht, sagt Nico Schulz. Sie verstarb zirka eine Woche später. „Wir haben aber auch wieder einen neuen Hund“, sagt Schulz. Ohne vierbeinigen Begleiter ginge es nicht, wenn man einmal für lange Zeit einen Hund hatte, sagt er.

Nach 20 Minuten auf dem Gassigang begegnen Apel und Ron dem ersten anderen Tierheimhund. Der Rottweiler wird mit lautem Bellen begrüßt. Ron selbst schaut nur interessiert. „Ron, klick!“ Apel nutzt das Signalwort des Rüden, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Komm Ron! Klick!“ ruft sie ihm in höherer Stimmlage zu, als wäre er ein Kind. Sie holt ein Leckerli aus der Westentasche. „Klick!“ Ron kommt zu ihr. „Fein“, sagt Apel und gibt dem Rottweiler seine Belohnung, die er trotz Maulkorb ohne Probleme frisst. „Ablenkung mit Futter ist perfekt. Das Markerwort beruhigt ihn“, sagt die junge Frau. Der andere Hund bellt fast rhythmisch und wird von seinen beiden Gassigängern an Ron und Apel vorbeigelenkt.

Der junge Rottweiler gibt sich ruhig und gehorsam. Im Tierheim leben aber auch Hunde, die als „gefährlich“ gelten. Einer davon ist der Golden Retriever Anton.

„Von Anton gingen in seiner Familie mindestens vier Beißvorfälle aus“, erklärt Apel. Beim ersten Vorfall habe er einen kleineren Hund getötet, einen Yorkshire Terrier. Die anderen drei Beißangriffe gingen gegen das Herrchen, wobei der vierte an den Hals gerichtet war. „Anton ist aber nicht aggressiv. Er hat einfach ein riesiges Ressourcenproblem“, sagt Apel. Das heißt, der Labrador verteidigt sein Futter und Spielzeug. Die Beißvorfälle sollen auch immer in Verbindung mit Futter oder Ressourcen passiert sein. Anton sei jedoch ängstlich und habe wenig Selbstbewusstsein.

Seit Sonnabend, 8. Februar, wohnt Anton im Tierheim. „Er ist sehr gehemmt, hat die ersten zwei Tage gar nicht gefressen und im Regen und im Wind draußen gelegen. Jetzt ist er im Hundestall“, sagt Apel. Als würde Anton einen Arrest absitzen, wird er trotz der Beiß-angriffe von seinem Herrchen besucht und darf mit ihm Gassi gehen. „Wie es weiter geht, hängt noch in der Luft“, sagt Apel. Der Besitzer hat jedenfalls schon Kontakt mit einem Tiertrainer aufgenommen.

Ron hängt mittlerweile an einer zwölf Meter langen Schleppleine, für mehr Bewegungsfreiheit. Apel verlässt mit dem Rottweiler den Feldweg und biegt auf eine Wiese ab. Links Feld, rechts ein Fluss – die Uchte. Hier kam die 27-Jährige im Jahr 2018 erstmals mit einer der Macken von Ron in Berührung. Wortwörtlich.

Die junge Frau erklärt, dass Ron in bestimmten Situationen einen „Rappel“ kriegt. Sie waren am Wasser, die Pfoten des Hundes wurden nass. „Dann kam er auf mich zugeschossen.“ Der Rottweiler ist an Apel hochgesprungen. Der Maulkorb war direkt vor ihrem Gesicht. „Weil er den Mauli hatte, bin ich auch cool geblieben“, sagt sie. Apel vermutet, das Wasser habe in Ron den „Spielmodus“ aktiviert. „Er hatte einfach dieses Gesicht. Man hat es ihm vorher angesehen, dass er gleich auf einen zugestürmt kommt.“ Rund 20 Sekunden dauerte die Situation, schätzt sie.

Der Weg an der Uchte führt das Gespann aus Hund und Gassigängerin zu einer kleinen Eisenbahnbrücke. Ein Güterzug fährt vorbei Richtung Norden. Ron schnüffelt an der Böschung und dem Ufer des Flusses. Dann gehen die beiden über einen schmalen Fußgängerweg auf die andere Seite. Dort darf Ron Futter jagen.

Apel nimmt dem Rottweiler den Maulkorb ab. Dann beginnt die Übung. „Klick“, sagt Apel, dann wirft sie ein Leckerli in eine beliebige Richtung. Ron läuft hin, schnüffelt auf dem Boden und sucht das Futter. Gefunden. „Klick“ – Wurf – Futtersuche. Mehrere Male wiederholt sich das auf den ersten Blick recht simple Schauspiel. Es handelt sich aber um eine Konzentrationsübung für Ron. Und: „Schnüffeln macht müde“, sagt Apel.

Der Gassigang sei für sie mindestens so wichtig, wie für Ron, sagt die 27-Jährige. „Er erdet mich.“ Sie nennt ihn liebevoll „Captain Chaos“ und beschreibt ihn als „elefantastisch“. Er sei sich seiner Größe nicht bewusst. Das zeigte sich besonders bei einem Pärchen, das Ron mit nach Hause nehmen wollte.

„Die haben sich Zeit genommen. Mehrere Monate. Vielleicht sogar ein halbes Jahr“, sagt Apel. „Da war ich auch die ersten zwei Spaziergänge dabei und habe denen eine grobe Anleitung zu Ron gegeben.“ Die Hundefreunde mussten wegen der Größe des Tieres Auflagen erfüllen. Haben einen Zaun um ihr Grundstück gebaut. Nachdem sie Ron abholten, dauerte es keine 24 Stunden und er war wieder im Tierheim. „Er war extrem aufgeregt und hat angefangen, die Wohnung zu zerlegen“, sagt Apel. „Weil seine Überforderung in Energie umschlägt. Und die muss raus. Er rennt halt nicht, bellt oder rennt im Kreis. Ron muss Sachen kaputtmachen. Und Kauen beruhigt Hunde ungemein“, erzählt Apel.

Dass Ron viel Energie hatte, wurde den Interessenten gesagt. Das hatte er nur nie gezeigt, weil er die Umgebung des Tierheims kennt, sagt Apel.

Die Futterjagd ist vorbei. In der Ferne kann Apel schon die Gebäude des Tierheims sehen. Es ist 12 Uhr und Ron zieht stärker an der Leine. „Er weiß, dass es bald Mittag gibt“, sagt Apel.

Ein weiterer Tierheimhund taucht als schwarzer Fleck in der Entfernung auf. „Das ist Four“, sagt Apel und erkennt den Mischlingshund mit schwarzem Fell sofort. „Mit Four kommt man nicht weit.“ Four sucht nach Maulwürfen oder Würmern. Wer mit ihm Gassi geht, braucht nur auf ein Feld abbiegen. Four ist schon zufrieden, wenn er buddeln darf. „Es geht ihm hier besser als vorher“, sagt Apel. Da habe Four an einer Kette in einem Zwinger in einer Gartenanlage gewohnt. Eine Tierfreundin habe den Fall gemeldet und so kam Four ins Tierheim.

Noch wenige Meter bis Ron sein Mittagessen genießen darf. Das Bellen der mehr als 30 Hunde im Tierheim ist längst zu hören. Wie ein Tierkonzert, dass konstant im Hintergrund läuft.

„Das ist der Flaschenhals“, sagt Apel. Der Punkt, an dem die Gassigeher mit ihren Hunden häufig auch zeitgleich zurückkehren. Gerade kommt Eddy zurück – ein Dackelmix. Er bellt, Ron starrt ihn an. Der Rottweiler war schneller, darf zuerst zurück in seinen Zwinger. Apel nimmt sein Geschirr ab und Ron muss das Futter schon riechen. Im Sprint stürmt er in seine Hundehütte.