Stendal l Rund 160.000 Euro machen eine gesetzliche Krankenkasse und die Rentenversicherung als Forderung in einem zweiten Zivilprozess am Landgericht in Stendal auf, der ursächlich mit einer Schießerei in Tangermünde vor fünfeinhalb Jahren zusammenhängt. In der Vorwoche berichtete die Volksstimme von einem Prozess vor Einzelrichter Christian Hachtmann, bei dem es um Schmerzensgeldforderungen eines mutmaßlichen Opfers geht.
Am Dienstag verhandelte nun Einzelrichter Sven Ludwig die Klagen der Krankenkasse IKK gesund plus und der Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland. Verklagt sind in allen Verfahren die Eltern eines Toten.
Rückschau: Am frühen Morgen des 24. März 2013 wurden unter strafrechtlich nie aufgearbeiteten Umständen ein schwer verletzter 50-Jähriger und ein 34-jähriger Toter in dessen Mietwohnung in einem Tangermünder Mehrfamilienhaus aufgefunden. Beide hatten Schussverletzungen. Ob und wie viel Alkohol von beiden konsumiert wurde, die Schüsse durch Unfall, Mord oder Selbstmord ausgelöst wurden, konnte von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht ermittelt werden.
Thomas Kramer, Sprecher der Staatsanwaltschaft Stendal, bestätigte auf Nachfrage der Volksstimme gestern, dass es im Jahr 2013 ein Verfahren gegen den Toten als mutmaßlichen Schützen gab. Das sei aber eingestellt worden, weil der Beschuldigte tot ist. Der damals durch einen Schuss in Hand und Oberkörper schwer Verletzte klagt nun gegen die Eltern auf Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von knapp 60.000 Euro. Zusammen mit der Forderung von Rentenversicherung und Krankenkasse belaufen sich die Gesamtforderungen auf rund 220.000 Euro.
Wie kann das angehen, wenn das Geschehen strafrechtlich nicht aufgearbeitet sei und es doch hierzulande keine "Sippenhaft" gibt, wollten mehrere Leser wissen. Die gibt es in der Tat nicht, sagte Gerichtssprecher Michael Steenbuck im Gespräch mit der Volksstimme. Aber auch wenn ein Geschehen wie dieses strafrechtlich nicht abgeschlossen ist, könnten unabhängig davon zivilrechtliche Forderungen aufgemacht werden.
Aber warum gegen die Eltern, die vom Tod des Sohnes schon betroffen genug sind? "Als Eltern sind sie in gesetzlicher Erbfolge die Rechtsnachfolger ihres verstorbenen Sohnes", lautet die Erklärung. Vorausgesetzt, sie haben das Erbe nicht ausgeschlagen. Was viele nicht wüssten: Als Ehegatte, Eltern oder sonstiger enger Verwandter erbe man automatisch gesetzlich, sofern man nicht innerhalb einer Frist von sechs Wochen widerspreche und das Erbe ausschlage. Das sei hier offenbar nicht geschehen.
Es gebe wohl eine Art Hintertür, die aber schon verschlossen sein dürfte. Erfährt ein Erbe, dass mit dem Nachlass ein großer Schuldenberg verbunden ist, könne er "unverzüglich" nach Kenntniserhalt die Annahme des Erbes nachträglich anfechten.
Im Raum steht, dass die Haftpflichtversicherung des als Waffenliebhaber bekannten Toten eintreten könne. Der 34-Jährige soll als Ex-Zeitsoldat und Sportschütze sowohl etliche legale als auch nichtlegale Waffen besessen haben. Die Versicherung sei angeschrieben worden, habe aber Ansprüche abgelehnt, hieß es dazu vom Anwalt der Eltern.
Der Prozess Krankenkasse/Rentenversicherung gegen die Eltern endete am Dienstag damit, dass sich die Beteiligten darauf verständigten, das Verfahren vorerst ruhen zu lassen. Wie berichtet hat Richter Hachtmann für den 11. Dezember die Verkündung eines Beschlusses geplant. Es "spreche einiges dafür", dass er in einem Urteil dem schwer verletzten Kläger zumindest "dem Grunde nach" Schadenersatz zusprechen werde, äußerte er sich dazu am Dienstag offiziell auf Anfrage seines Kollegen Ludwig.
Egal wer in dem Fall verliert, er wird Berufung beim Oberlandesgericht Naumburg einlegen. Richter Ludwig schlug vor, den Entscheid der Berufungsrichter im ersten Verfahren für die Weiterführung des zweiten Prozesses abzuwarten.
Im Gespräch sagten die verklagten Eltern zur Volksstimme, dass der Verlauf am Tattag völlig unklar und ihr Sohn für sie nicht der Schütze gewesen sei. Im Vorjahr hätten sie Strafanzeige gegen den damals schwer verletzten Kläger erstattet. Staatsanwalt Kramer bestätigte, dass es ein Verfahren wegen des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung gebe. Die Akten befänden sich derzeit aber bei der Polizei.