Autor und Redakteur Gunnar Decker präsentiert sein Buch über den Schriftsteller Georg Heym "Ich liebe alle, die oft an sich verzweifeln"
Marcel Reich-Ranicki spricht von dem vielleicht größten Dichter des 20. Jahrhunderts. Doch Georg Heym ist keiner, der gefallen will, er schreibt Gedichte über Außenseiter, Irre und die Gemeinheit der Masse.
Stendal l "Mein Gott - ich ersticke noch in dieser banalen Zeit", so lautet das Eingangszitat im Buch von Gunnar Decker "Ich, ein zerrissenes Meer".
Das Theater der Altmark lud zu dieser sehr interessanten Lesung am Abend des 13. Januar ein, und ein kleines literaturinteressiertes Publikum fand sich ein. Gunnar Decker begann auch schnell und poesielos, sein erstes Kapitel - "Sachlicher Bericht vom Tod eines Dichters" - vorzulesen.
"Der Lyriker und Novellist wäre vielleicht einer der größten Dichter Deutschlands geworden, jedenfalls des zwanzigsten Jahrhunderts", so Marcel Reich-Ranicki einmal in der FAZ.
Der "Komet am Avantgarde-Himmel Berlins", las Decker vor "versank am 16. Januar 1912 im Eis". Es war das Eis der Havel, etwa in der Mitte zwischen Lindenwerder und Schwanenwerder bei Berlin, das Berliner Tageblatt schrieb: "Die Leichen der im Wannsee ertrunkenen jungen Juristen, des Referendars Dr. Georg Heym und des Rechtskandidaten Ernst Balcke, konnten geborgen werden".Balcke brach ein, Heym sank nach einem halbstündigen Todeskampf bei der Rettung seines Kollegen auf den Grund der Havel. Ob von Heym geahnt oder nicht, im Essay von Decker erscheint alles folgerichtig, wenn er liest, " als er im Eis versinkt, nimmt das den Untergang eines Zeitalters nur vorweg".
Seine bekanntesten Gedichte, "Der Krieg" und "Der Gott der Stadt", befinden sich im postum 1913 veröffentlichten Gedichtband "Umbra vitae". Neben 500 anderen Gedichten und lyrischen Entwürfen schildert er Irre oder Außenseiter mit einer schonungslosen Sprache. Nur waren die Sehenden und Gesunden seine Außenseiter in einer verlogenen Welt, deren vergangenes Idyll mit dem beginnenden Fortschritt der Technik und dem Wachstum der Städte, aber auch dem bürgerlichen Kadavergehorsam unterging.
"Heym ist ein Priester des Schreckens . Ein Visionär des Grotesken."
Ernst Stadler
Heyms Visionen von Krieg und Gemeinheit der anonymen Masse im Tempo der Großstadt werden vernichtend im expressionistischen Gedicht "Der Gott der Stadt" behandelt. Kritik an umweltschädlicher Industrie, Monotonie und Gefangenheit in heimatlose, naturverlorene Städte, an einer nur noch virtuellen Welt, alles das ist für ihn Bedrohung und Zerfall. In Gedichten wie "Die Dämonen der Städte" oder "Die Heimat der Toten" schreibt er über Städte, Stadtleben oder über den Krieg auf grausamen Weise, doch bei Heym liegt die Stärke im Schluss."Heym ist ein Priester des Schreckens. Ein Visionär des Grauenerregenden und Grotesken", sagte Ernst Stadler einst über ihn, denn diese vor dem ersten Weltkrieg geschrieben Werke zeigen die Fratze des Bevorstehenden. Zu seiner Zeit hat "ihn keiner gekannt, er war wie ein wandelndes Paradox", so ein Zitat von Erwin Loewenson im Buch und von Decker spannend gelesen. Er war sportlich, energisch im "Bezwingen-Wollen" seiner Umwelt und doch unsicher, mit übergroßer Scheu.
Seine Kindheit war ein steter Kampf gegen das Spießertum der Eltern, nur schreibend kann er gegen die bestimmende Väterwelt angehen und beugt sich doch widerwillig. Entspannung bringt ihm das Demolieren von Zäunen und sogar des Gymnasium-Ruderbootes, was zum Schulverweis führte. Er wird wie sein Vater Jurist und ein "brauchbares Mitglied des kaiserlichen Beamtentums", so der starke, respektfordernde Vater, der später depressiv wird und nun schwach und vergänglich erscheint, so wie die Landschaft Schlesiens. Dort wurde er 1887 geboren und kam durch die Versetzung des Vaters, erst nach Posen und dann nach Berlin. Eine zerrissene Kindheit "die aber dadurch Gelegenheit bot, durch diesen schmalen Spalt in der Tür, zu betreten ein verbotenes Land".
Der Autor Gunnar Decker ist Redakteur der Zeitschrift "Theater der Zeit". Der promovierte Philosoph veröffentlichte zuletzt: "Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns" (2009) und zum hundertsten Todestag Georg Heyms "Ein biographischer Essay, Ich, ein zerrissenes Meer".
"Ich liebe alle, die nicht von der großen Menge angebetet werden."
Georg Heym
"Ich liebe alle, die in sich ein zerrissenes Herz haben, ich liebe Kleist, Grabbe, Hölderlin, Büchner. Ich liebe alle, die nicht von der großen Menge angebetet werden. Ich liebe alle, die oft so an sich verzweifeln, wie ich fast täglich an mir verzweifle", so ein Ausspruch von Heym und auch Decker verriet: "Ich liebe keine gefälligen Texte und bin ein Außenseiter der Zeit."
Ein sehr interessanter Abend, der von einer regen Diskussionsrunde und viel Applaus beendet wurde.