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Müllentsorgung Richter rügt Müllkalkulation in Stendal

Unter anderem hatte eine Frau aus Tangerhütte gegen ihren Müllgebührenbescheid aus dem Jahre 2017 Klage eingereicht.

Von Bernd-Volker Brahms 17.08.2019, 01:01

Stendal/Magdeburg l Ein Urteil hat Richter Niels Semmelhaack noch nicht gesprochen, dafür reichte die Zeit am Donnerstag im Saal 11 des Verwaltungsgerichtes in Magdeburg nach mehr als fünf Stunden Verhandlung nicht mehr aus. Dass die Tangerhütterin Mareyle S. allerdings Erfolg mit ihrer Klage gegen den Landkreis haben wird, daran ließ der Richter am Ende gar keinen Zweifel aufkommen.

Im Kern ging es darum, ob die Tangerhütterin mit ihrem Kleingewerbe zusätzlich an die Müllentsorgung des Landkreises angeschlossen werden muss oder nicht, obwohl das Grundstück bereits privat angeschlossen ist. Der Landkreis wollte sie mit ihrem Geschäft gesondert veranlagen, obwohl die Behörde keine zusätzlichen Tonnen stellte und eine Entsorgung über die Privattonnen gestattete. Die Frau ging gegen ihren Gebührenbescheid in Widerspruch und erhob nach Ablehnung eine Klage beim Verwaltungsgericht.

Was dann vor Gericht passierte, damit hatten die Vertreter des Landkreises sicherlich nicht gerechnet. Und sie waren immerhin mit sechs Leuten zu dem Anhörungstermin erschienen: zwei Anwältinnen aus Berlin, der ALS-Geschäftsführer, ein Rechtsamtsmitarbeiter sowie zwei Mitarbeiter aus dem Umweltamt des Landkreises. Richter Semmelhaack las ihnen regelrecht die Leviten. Er rügte, dass ihm auch nach drei Jahren noch nicht alle Unterlagen vollständig vorliegen würden. Und viel schlimmer noch, das, was ihm vorliegt, entbehre jeder Plausibilität.

„Das ist alles nicht nachvollziehbar“, sagte der Richter, der sich die Kalkulation des Landkreises für die Müllgebühren für die Jahre 2017 bis 2019 ganz genau angesehen hat. Der Kreistag hatte diese Kalkulation nach der Korrektur eines „Rechenfehlers“ am 1. März 2018 neu verabschiedet.

„Wir haben hier stundenlang gerechnet und konnten die Kalkulation nicht nachvollziehen“, sagte Semmelhaack. „Die Zahlen passen vorne und hinten nicht. Sie binden hier die Arbeitskraft eines Gerichtes und die Kosten des Steuerzahlers in unerträglicher Weise. Kein Mensch kann das hier nachvollziehen, was Sie hier vorlegen.“ Es ging dabei um die sogenannten Einwohnergleichwerte. Hier wird mittels Multiplikation ein Wert ermittelt. „Das sind Grundrechenarten, die hier anzuwenden sind“, sagte der Richter. Trotz vielem hin und her seien er und seine Richterkollegen nicht auf die entsprechenden Ergebnisse gekommen, sagte er.

Auch die Mitglieder des Kreistages, die darüber abgestimmt hatten, hätten dies nie und nimmer verstehen können, so Semmelhaack. Laut Rechtssprechung des Bundesverwaltungsgerichtes sei jedoch der Maßstab, der an eine Kalkulation angelegt werde, dass Kreistagsmitglieder diese verstehen können müssen.

Der Richter betonte, dass er die Klage der Tangerhütter Bürgerin schlecht abweisen könne, wenn er die Gebührengrundlage des Landkreises nicht im Ansatz nachvollziehen könne. „Das ist wohl etwas unglücklich in den Tabellen dargestellt worden“, sagte Rechtsanwältin Caroline von Bechtolsheim von der Berliner Kanzlei Gaßner, Groth, Siederer & Coll. Der amtierende Geschäftsführer der ALS Dienstleistungsgesellschaft mbH, Hendrik Galster, setzte noch einen drauf: „Man kann aus den Tabellen nicht rechnerisch auf die Ergebnisse kommen“, sagt er. Es seien Ist-Zahlen ergänzt worden. Man habe beispielsweise Spargelverkäufer, die nur ein zeitweises Gewerbe betreiben, mit entsprechend geringeren Sätzen eingefügt. Wieso eine Prognose mit Ist-Zahlen angereichert werde, konnte von den Landkreis-Vertretern niemand erklären. Rechtsvertreterin von Bechtolsheim, sprach von „rechnerischen Zwischenschritten“, die nicht dargestellt, aber unmittelbar dem Gericht nachgeliefert werden könnten.

„Sie hatten drei Jahre Zeit, hier Unterlagen einzureichen“, sagte der verärgerte Richter. „Sie spielen hier mit uns Blinde Kuh.“ 2016 wurden bereits erste Verfahren beim Verwaltungsgericht eingeleitet. Die nun mündlich gemachten Erläuterungen der Vertreter des Landkreises brachten den Richter nur noch weiter auf die Palme. „Sie vertreten hier eine Behörde“, sagte er. Als solche seien sie verpflichtet, dem Gericht alle Unterlagen vollständig auszuhändigen „und zwar unaufgefordert“.

Er habe mit größtem Erstaunen aus der Zeitung erfahren, dass man sich bei der Kalkulation so stark verrechnet habe, so dass die Satzung rechtswidrig war und noch einmal durch den Kreistag musste. Ende 2017 hatte der Landkreis nach externen Hinweisen eingestehen müssen, dass nahezu eine Million Euro zu viel eingenommen wurden.

Auch seien Fragen nicht angemessen beantwortet worden, sagte der Richter. So hätten Bürger mit Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz nur unzureichende Antworten bekommen, und das auch, nachdem sie einen Rechtsanwalt eingeschaltet hatten. „Die Antwort: Das steht im Internet“, reicht nicht aus, sagte der Richter. So hatten mehrere Mandaten des Magdeburger Rechtsanwaltes Michael Moeskes konkrete Fragen gestellt. „Eine Einsicht in die Unterlagen haben wir bis heute nicht bekommen“, sagte Moeskes. Der Rechtsanwalt war nach eigenen Angaben verwundert, wie deutlich der Richter in dieser Sache geworden ist. „Das habe ich in 30 Jahren meiner Tätigkeit noch nicht erlebt“, sagte Moeskes.