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Pride-Month Geschichte voller Lücken

Wie es sich in Stendal einst als Homosexueller lebte, ist mit den wenigen Aufzeichnungen zum Thema nur schwer einschätzbar.

02.07.2019, 23:01

Stendal l Im Juni wurde an vielen Stellen weltweit der sogenannte „Pride-Month“ gefeiert. Bei diesem stehen Homosexuelle und andere Gruppen außerhalb geschlechtlicher Normen - gerne zusammengefasst unter dem noch umstrittenen englischen Begriff „queer“ - im Vordergrund. Der Monat ist eine Feier der Fortschritte und eine schmerzhafte Erinnerung an die Ungerechtigkeiten, die damit zusammenhängen – eine Geschichte, die sich auch innerhalb Deutschlands sehr unterschiedlich abspielte.

Jede Stadt hat dabei ihren eigenen Umgang mit der Thematik. Berlin wies schon vor 100 Jahren und mehr eine lebendige Szene auf, im Osten gab es Schwerpunkte wie Leipzig - dank Eduard Stapels Aktivismus - und Magdeburg, in dem heute noch einige Organisationen heimisch sind, die sich damit befassen.

Dort wird außerdem jährlich eine Parade zum „Christopher Street Day“ abgehalten. Stendal wirkte dagegen immer außen vor, in der abgelegeneren Kleinstadt herrschten eher konservative Verhältnisse.

Zwar wurde Homosexualität hier wie in der gesamten DDR 1968 mit der Abschaffung des Paragraphen 175 entkriminalisiert. Dennoch blieb das Thema über viele Jahre tabu. Die ersten konkreten Aufzeichnungen, die der Volksstimme aktuell dazu vorliegen, gehen daher auch erst in den 1990er Jahren los.

So berichtet ein Artikel von 1999 von einer Schwulen- und Lesbenkneipe, die im Theatercafé, der heutigen Kulturkantine, anlässlich des Welt-AIDS-Tages am 1. Dezember desselben Jahres eröffnet wurde. Der Saal war schon zu DDR-Zeiten ein Geheimtreff, wie Kneipenbetreiber Denny Heidmer damals angab und Detlef Koch vom Theater der Altmark heute bestätigen kann.

„Man wusste das in Stendal, hat nur nicht darüber geredet“, erklärt Koch die frühere Haltung. Die Szene traf sich dort außerhalb der Spielzeiten, um sich vor der Öffentlichkeit zu verstecken: „Wir waren lange, lange zu verklemmt.“

Koch zufolge leitete Heidmeier vorher das Eiscafé „Pinguin“ in einem rosafarbenen, heute leerstehenden Gebäude an der Ecke Karlstraße - Breite Straße. „Das lief auch, aber dann war abrupt Schluss“, gibt Koch an. Das Café soll neben einem Treff für die Stendaler Jugend auch eine Anlaufstelle für seine Homosexuellen gewesen sein.

Ein älterer Artikel aus dem Jahr 1992 berichtet über einen Aktionstag, bei dem geplant war, gleichgeschlechtliche Eheschließungen in den Standesämtern anzumelden. Damit sollte der Wille und Bedarf ausgedrückt werden, diese Form der Ehe rechtlich anerkennen zu lassen.

In Stendal fand diese Aktion allerdings keinen Anklang. Vielleicht gab es einfach nicht genug, die überhaupt in der Situation wären, diesen Anspruch anzumelden – und die, die es gab, waren wohl nicht dazu bereit, sich zu erkennen zu geben.

25 Jahre später wurde dieser Anspruch dann aber schließlich doch in ganz Deutschland erfüllt. Seit Oktober 2017 gilt die „Ehe für alle“, gleichgeschlechtliche Ehen sind damit hierzulande rechtens. In Bereichen wie dem Adoptiosrecht wird aber noch um Gleichstellung gekämpft.

Die neue Möglichkeit wurde auch mehrfach in Stendal genutzt. Wie das Standesamt auf Anfrage der Volksstimme angibt, waren von insgesamt 269 Ehen zwischen Einführung der Ehe für alle und Mitte Juni 2019 13 gleichgeschlechtlich. Zwei davon in den drei Monaten, die es die Gelegenheit 2017 gab, acht im Jahr darauf und drei im aktuellen Jahr.

Eine sichtbare Szene gibt es hier dennoch nicht, und Geheimtreffs wie einst scheinen ausgestorben zu sein. Tatsächlich gehörte das für einige zu den Gründen, die Stadt zu verlassen. Das queere Stendal verteilt sich auf der Suche nach Gleichgesinnten also eher auf andere Orte, statt in der Hansestadt zu bleiben.

Dies ergaben jedenfalls kurze, stichprobenartige Umfragen, ein richtiges Bild lässt sich mit denen jedoch noch nicht zeichnen. Die erhaltenen, öffentlich verfügbaren Aufzeichnungen lassen eine Menge Lücken. Das lässt hoffen, dass persönliche Berichte und andere Quellen dabei helfen können, diese aufzufüllen und die Geschichte nachhaltig festzuhalten.

Daher bittet die Volksstimme alle, die selbst näheres wissen oder Anhaltspunkte liefern können, uns zu unterstützen. Vorschläge, Hinweise, Bildmaterial und jegliche andere Hilfe werden über die E-Mail-Adresse sebastian.wienecke@volksstimme.de oder wochentags über die Telefonnummer 03931/638 99 58 angenommen.