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ProzessGegen den Willen Chemo bekommen

Ein todkranker Krebs-Patient erhielt im März 2016 im Stendaler Krankenhaus eine Infusion, obwohl er dies mehrfach abgelehnt hatte.

Von Wolfgang Biermann 21.03.2019, 23:01

Stendal l Niemand ist fehlerfrei, auch Ärzte nicht. Nur dass deren Fehler oftmals gravierende Auswirkungen auf Gesundheit und Leben von Menschen haben können. Umso schwerer scheint es, einen solchen Fehler auch einzugestehen, selbst wenn er unabsichtlich passierte – und der Arzt dabei nur das Wohl des Patienten im Blick hatte. So stellte sich dies in einem Fall dar, der nun am Stendaler Amtsgericht in einem höchst emotionalen Prozess verhandelt wurde.

Einer Ärztin, die heute nicht mehr bei den Johanniter-Zentren für Medizinische Versorgung (JZMVZ) Altmark im Stendaler Krankenhaus tätig ist, wurde vorgeworfen, im Jahr 2016 einem Patienten mit Krebs im Endstadium gegen dessen Willen eine Chemotherapie verabreicht zu haben.

Gefährliche Körperverletzung durch „Beibringung von Gift oder anderen gesundheitsschädlichen Stoffen“, so lautete der Anklagevorwurf der Staatsanwaltschaft Stendal gegen die bislang rechtlich völlig unbescholtene Ärztin. Darauf stehen im Regelfall laut Strafgesetzbuch mindestens sechs Monate Gefängnis. Am Ende wurde das Verfahren nach Anhörung mehrerer Zeugen und eines medizinischen Gutachters gegen Zahlung von 14.000 Euro eingestellt.

Von dem Geld erhält die am Verfahren über einen Anwalt vertretene Witwe des Patienten einen Anteil, der zweite Teil geht an das Stendaler Hospiz. Das Strafregister der Ärztin bleibt ohne Eintrag.

Worum es konkret ging, sei an dieser Stelle vereinfacht dargestellt. Der unheilbar kranke Patient aus der Westaltmark befand sich in ambulanter Behandlung im Stendaler Krankenhaus, genauer gesagt in sogenannter Spezialisierter ambulanter Palliativversorgung (SAPV). Um seine Lebensqualität weitestgehend zu erhalten, seine Beschwerden zu lindern und erträglich zu halten, bekam er sowohl Bestrahlungen als auch in regelmäßigen Abständen eine Infusion gegen Knochenmetastasen, einen sogenannten Knochentropf.

Unmissverständlich habe er deutlich gemacht, dass er keine anderweitige Chemotherapie wünsche, hieß es unter anderem in Arztbriefen, die auch der Angeklagten als behandelnder Ärztin bekannt waren. Gleichwohl wollte diese ihn von der Wirksamkeit einer speziellen Chemotherapie überzeugen, doch er lehnte ab. Trotzdem wurde ihm von der Angeklagten diesbezüglich ein Aufklärungs- und Zustimmungsformular mit nach Hause gegeben, damit er das Hilfsangebot noch einmal überdenke. Er kam sodann am 18. März 2016 turnusmäßig wieder ins Krankenhaus, um sich die übliche Infusion („Knochentropf“) geben zu lassen. Bei der Ablehnung der Chemo war er geblieben. Er wurde an diesem Tag wohl auch gar nicht danach gefragt.

Sie hätte sich ebenso wie ihr Mann gewundert, dass ihm eine zweite Infusion verabreicht wurde, sich jedoch dabei nichts weiter gedacht, sagte die Ehefrau des Patienten nun im Prozess aus. Wieder zu Hause angekommen, litt er unter anderem an Übelkeit. Eine Erklärung erwartend, suchte das Ehepaar das Krankenhaus erneut auf. Erst da wurde nach und nach klar, dass dem Patienten ohne konkrete Aufklärung – und vor allem ohne seine Zustimmung – eine Substanz mit zellschädigender Wirkung verabreicht worden war. Auch wenn diese letztlich wohl „nur“ eine Schädigung der Mundschleimhäute beim Patienten hervorriefen, wie im Nachhinein diagnostiziert wurde.

Der vom Gericht hinzugezogene Gutachter Professor Lars Bullinger, Direktor der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité Berlin, hielt die von der Angeklagten eingesetzte chemische Substanz in Kombination mit der zugleich durchgeführten Strahlentherapie nicht für die erste Wahl, aber auch nicht grundsätzlich für falsch.

Im Prozess ging es nicht um die Frage, ob der Patient möglicherweise an den Folgen der zunächst bestrittenen, dann aber unter Tränen von der angeklagten Ärztin eingeräumten Fehlbehandlung einige Zeit danach verstarb.

Ohne direkten Bezug zum konkreten Fall sagte Gerichtssprecher Michael Steenbuck auf Nachfrage, es sei immer schwierig, im Nachhinein den sogenannten Kausalitätszusammenhang zwischen einer möglichen Fehlbehandlung und dem Tod eines Patienten festzustellen. Aber darum ging es ja auch nicht, denn Körperverletzung mit Todesfolge war nicht angeklagt.