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Schulsozialarbeit Der Ruhepol im täglichen Trubel

Mancher hält sie für überflüssig, für Schulen sind sie nicht mehr wegzudenken: die Schulsozialarbeiter. Ein Besuch in Stendal.

Von Nora Knappe 18.01.2018, 00:01

Stendal l Sie sind kein Lehrer-Ersatz und auch kein Eltern-Ersatz. Und genau das macht die Schulsozialarbeiter wohl so beliebt. Und so wichtig. „30 Punkte könnten wir Ihnen aufzählen, was wir alles machen“, sagt Karin Roelofsen (52), die sich die Stelle der Schulsozialarbeit in der Diesterweg-Sekundarschule Stendal mit Anna Richter (34) teilt. Aber es geht auch kurz. Zum Beispiel so: „Wir sind die Anwälte der Schüler.“ „Wir sind Vermittler und Streitschlichter.“ „Wir machen Einzelfallberatung.“ „Und Sozialtrainings zu Mobbing und Gewalt.“ „Und wir bieten AGs und Ferienaktivitäten an.“

Aber was vielleicht am wichtigsten ist: Sie sind immer da. So fühlt es sich für die Schüler jedenfalls an. „Sie sind wie Freunde, man kann mit ihnen über alles reden“, sagt Maja Grobler, die gerade mit Fabian Nöldner bei den beiden reinschaute. Es gab da was zu klären. Allein der andere Raum, die gemütliche Atmosphäre, ein paar beruhigende Worte – das hilft schon. Da fällt eine Last ab, bekommt man einen neuen Blickwinkel, einen Lösungsweg.

Die beiden 16-Jährigen sind „eigentlich jeden Tag hier“, sagt Fabian. Nicht immer geht es um Gravierendes, manchmal ist es auch einfach nur, dass jemand zum Zuhören da ist. „Wenn es zu Hause Probleme gibt, will man ja damit nicht als Erstes zu den Eltern gehen.“ Also erst mal zu den Schulsozialarbeiterinnen. Und da wird dann „ein Schlachtplan“ gemacht, wie Maja es nennt. „Es ist immer jemand da, mit dem man reden kann, und sie versuchen immer zu helfen.“ Lehrer wären dafür kein guter Ersatz, finden die beiden Zehntklässler. „Sie sind meist distanzierter“, versucht es Fabian zu erklären. Maja meint: „Sie befassen sich zu wenig damit oder sagen: Da müssen sich eure Eltern drum kümmern.“

Manchmal sind es nur Missverständnisse, die von außen betrachtet schnell geklärt und aufgelöst werden können. Aber von innen betrachtet sind sie für den jeweiligen Schüler erst einmal eine kleine Katastrophe. Erzeugen Wut, Frust und Tränen. Damit kommen die Schüler dann in Raum 3 der Schule – und gehen im besten Falle ohne wieder hinaus. Fürs Schulklima und letztlich auch die Lust am Lernen ein nicht zu unterschätzender Faktor.

Darum ging es Direktorin Silvia Mattner auch, als sie sich 2006 für die Schulsozialarbeit starkmachte. Drei Schulen waren fusioniert, „es gab viele Ecken und Kanten, Unterrichtsstörungen durch Schüler traten gehäuft auf“. Aber auch die Ursachen für Schulversagen zu ergründen und eine bessere Kooperation von Jugendhilfe und Schule waren Impulse. „Uns war von Anfang an klar, dass die Schulsozialarbeiter keine Ersatzlehrer sind“, sagt Mattner. Aber mit ihrer Zeit, ihrem Fingerspitzengefühl, ihrem umfassenden Blick von außen sind sie unersetzlich geworden. „Sie müssen tagtäglich vor Ort sein.“

Dass die Schulsozialarbeiter über freie Träger an die Schulen kommen (die an der Diesterweg-Schule sind beim DRK angestellt), sieht Mattner inzwischen als großen Vorteil. „Das Netzwerk und die Unabhängigkeit vom Landesschulamt bieten besondere Möglichkeiten, von denen wir als Schule profitieren können.“

Nicht nur für Schüler sind Karin Roelofsen und Anna Richter Ansprechpartner. Auch für Lehrer und Eltern sind sie ein wichtiger Bezugspunkt, sind Vermittler und Vertrauenspersonen. Dass den Lehrern keine Zeit bleibt, sich so intensiv und individuell um einzelne Probleme zu kümmern, können Roelofsen und Richter gut nachvollziehen. Der Druck ist hoch.

Förderschullehrer Frank Schulz, hier für die Inklusion mit zuständig, schaut gerade zufällig ins Büro, nutzt die Gelegenheit, sich zu äußern: „Schulsozialarbeiter sind ganz wichtig, sie sind eine Art Auffangbecken.“ Für die Menge an Problemen, die die Kinder mitbrächten, bräuchten die Lehrer diese Unterstützung, „nicht jeder Schüler will ja mit dem Lehrer drüber sprechen“. Schulz sieht in der Schulsozialarbeit auch eine wesentliche Ergänzung seiner eigenen Arbeit, der Austausch sei wichtig.

Den gibt es auch mit anderen Schulen und deren Schulsozialarbeitern. Daher wissen Roelofsen und Richter, dass es überall die gleichen Pro­bleme sind. Mobbing ist ganz virulent. „Klar, Ausgrenzung hat es früher auch gegeben, aber heute zieht das viel größere Kreise, geht viel schneller rum“, sagt Roelofsen und deutet auf ihr Smartphone. Demütigung und Verunglimpfung verbreiten sich in Foren und Chat-Gruppen rasend schnell.

Das Ende der Förderung der Schulsozialarbeit über den Europäischen Sozialfonds ab 2020 sehen die beiden mit Sorge. Und dass manche Politiker die Schulsozialarbeit als überflüssig erachten, bringt sie nicht weniger in Rage als die stetig überhandnehmende Bürokratie, die ihrer eigentlichen Arbeit die Zeit raubt. „Wer meint, Schulsozialarbeit ist nicht nötig, der war lange nicht an einer Schule“, findet Karin Roelofsen, „den würde ich einladen, mal eine Woche herzukommen.“

Ihre Kollegin Anna Richter, die bislang kaum am Gespräch teilnehmen konnte, weil wichtige Mails erledigt werden mussten, weil Anrufe dazwischenkamen, weil Schüler ihren Rat brauchten, weil das tägliche Kommen und Gehen, Streiten und Weinen wegen eines Pressetermins nun mal nicht einfriert, hat sich nun dazugesetzt: „Es beginnt ja schon in Kindergarten und Grundschule, dass Kinder auffällig sind“, sagt Richter, die in Stendal Rehabilitationspsychologie studiert hat. „Und, wenn wir ehrlich sind, es nimmt zu. Der Respekt gegenüber Erziehern fehlt, das ist einfach diese Generation.“

Aber warum sind die Kinder heutzutage so anders? Früher, ist man geneigt dahinzusagen, hat es doch auch keine Schulsozialarbeiter gegeben. Eine ultimative Antwort haben Roelofsen und Richter auch nicht. Aber sie haben ihre Beobachtungen und Erfahrungen: „Allein schon die Ernährung hat sich geändert, das wirkt sich aus. Die Kinder haben nur noch wenig Bewegung, spielen nicht mehr draußen, leben ihre eigene Fantasie nicht mehr aus, konsumieren Medien und digitale Spiele, auf sie strömt eine Informationsflut ein.“ Soziale Fähigkeiten und der gute Umgang mit Konflikten bleiben da auf der Strecke.

Insgesamt, so schätzen Roelofsen und Richter ein, laste ein immer größerer Druck auf Kindern und Eltern, aber auch auf den Lehrern. „Wir versuchen, diesen Druck zu nehmen. Und hier ist dafür ein geschützter Raum.“ Raum 3 – der bei allem Trubel, der hier förmlich durchfliegt, auf wundersame Weise ein Ruhepol ist.