1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Stendal
  6. >
  7. Eine Fundgrube für Eisenbahner

Stadtarchiv Eine Fundgrube für Eisenbahner

Im Stadtarchiv Stendal befindet sich eine Mappe. Sie enthält mehr als 2.000 Namen von Lehrlingen des Reichsbahn-Ausbesserungswerkes.

Von Regina Urbat 03.08.2019, 01:01

Stendal l Erst ein Bierseidel, nun eine Mappe mit mehr als 2.000 Namen, handschriftlich fein säuberlich aufgelistet. Beides stammt aus dem Familiennachlass von Gisela Lilienthal aus Halver, eine Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, und gehörte ihrem Stiefvater Wilhelm Beckmann. Während der Glaskrug mit verziertem Deckel, dem Beckmann 1912 von der Vorturnerschaft des Männer-Turn-Vereins Stendal verliehen wurde, im Sportmuseum der Hansestadt seinen Platz gefunden hat, ist die Mappe an Simone Habendorf übergeben worden. Sie leitet das Stadtarchiv in Stendal und hat nach erster Analyse festgestellt: „Namen sind immer gut.“

Die Mappe trägt die Aufschrift „Lehrlinge seit dem Jahr 1883“. Auf Listen sind unter fortlaufenden Nummern Namen von Lehrlingen im Reichsbahn-Ausbesserungswerk (RAW) in Stendal notiert. Ein beigelegter Dienstausweis von Wilhelm Beckmann, der am 10. Mai 1891 in Mieste geboren wurde, lässt vermuten, dass der einstige Oberwerkmeister im RAW „die Liste mal selbst geführt und vielleicht in seinen Besitz genommen hat, bevor sie verschwindet“, sagt Simone Habendorf.

Aufgeführt sind Personen, deren Geburtstag, Wohnort und Ausbildungsbeginn sowie Informationen zum Vater beziehungsweise Vormund. In der Regel waren die Lehrlinge 14 oder 15 Jahre alt. „Damals galt die Regelschulzeit bis zur 8. Klasse“, begründet die Stadtarchiv-Chefin. Auch kamen die Lehrlinge zunächst aus Stendal und der näheren Umgebung wie Wahrburg, Röxe und Dahlen. „Sicher sind sie zu Fuß gelaufen. Das war normal, selbst für Entfernungen wie von Tangermünde nach Stendal“, sagt Simone Habendorf. Einige Seiten weiter, in den Jahren 1917 und 1918, sind Lehrlinge wie damals üblich im April eingestellt und im Juli entlassen worden. Ob sie für den Kriegsdienst eingezogen wurden? Die Vermutung liegt nah.

Fakt ist für Simone Habendorf, das Weltgeschehen spiegelt sich in dieser Akte wieder. In den Jahren 1934 bis 1936 sind sehr viele junge Menschen eingestellt worden. Längst sind sie nicht nur aus Stendal, Tangermünde, Tangerhütte, Gardelegen und anderen Orten in der Altmark, sondern stammen aus Hamburg, Magdeburg und Dessau. Ein Einstellungsboom von Lehrlingen ist auch während des 2. Weltkriegs und vor allem in der Nachkriegszeit zu erkennen. Beispielsweise sind 1948 das ganze Jahr über Neueintragungen erfolgt, über 80 insgesamt.

Noch eins fällt auf, ob Meier, Schulze oder Schmidt, es tauchen immer wieder gleiche Nachnamen mit denselben Ortsangaben auf. Sicher haben Generationen von Familien im RAW ihre Ausbildung absolviert und später dort in Lohn und Brot gestanden. Das Werk war der größte Arbeitgeber, was zur Folge hatte, dass das Kneipenleben im Bahnhofsviertel florierte. „Man traf sich halt zum Feierabendbierchen“, weiß die Stendalerin aus Erzählungen.

Welcher Beruf erlernt wurde und ob eine Übernahme erfolgte, diese Hinweise gibt es in der Lehrlingsmappe aber nicht. Dafür interessante Anmerkungen wie beispielsweise der Hinweis auf einen Abbruch und Wechsel nach Uchtspringe als Pfleger oder zur Eisenmöbelfabrik Stima in Stendal. „Ein Vater war Bodenmeister, den Beruf habe ich noch nie gehört“, sagt Simone Habendorf und schließt die Mappe.

Das Dokument wird den Titel „Lehrlinge im RAW von 1883 bis 1951“ mit dem Verweis, 2.081 Namen, erhalten und im Stadtarchiv eingelagert. Solche historischen Aufzeichnungen aus Betrieben mit persönlichen Daten seien selten, zumal es keine Abgabepflicht für Firmen gebe. „Deshalb ist die Mappe eine geniale Ergänzung zu alten Einwohnermeldekarten oder Personenstandsbücher.“ In diesen sei nicht verzeichnet, wo die Person gearbeitet habe. Bei Kesselschmied oder Lokschlosser könnte man schnell auf das RAW schließen.

Speziell vom RAW seien im Stadtarchiv bislang Brigade- und Ehrenbücher, Aufzeichnungen über Mosambikanische Werktätige, Untersuchungen zu Kohlenstaub-Loks, Abgangszeugnisse und Gesellenbriefe, Fotos von Betriebsferienlagern in Ahlbeck an der Ostsee und in Blankenburg im Harz. Hinzu komme Archivmaterial vom Sachsenwerk, dem Kleinbahn-Reparaturwerk, das später dem RAW angegliedert wurde. Es seien unter anderem alte Glasplatten mit Fotos von zig verschiedenen Lokomotiven. „Jeder Eisenbahnfan macht einen Kniefall, wenn er so etwas in die Hände bekommt.“

Simone Habendorf ist sich sicher, dass die Lehrlingsmappe interessant für ehemalige Eisenbahner und ebenso für private Forscher sei. Deshalb wäre es hilfreich, dass die Liste abgeschrieben wird, um die Namen und persönlichen Angaben jedermann im Lesesaal zugänglich zu machen. „Wer kann heutzutage noch die altdeutsche Schrift entziffern“, begründet sie. Priorität habe die Lehrlingsliste nicht, deshalb nehme das Stadtarchiv gern Unterstützung beim Abschreiben an. Wer daran Interesse habe, könne sich gern im Stadtarchiv in der Brüderstraße 16 melden.

Das wäre im Sinne von Gisela Lilienthal, geborene Neumann. Anlass ihrer Schenkung war der Wunsch, dass der Nachlass ihres Stiefvaters in Stendal eine gute Verwendung findet. Sie selbst lebte bis etwa 1954 in Tangermünde und Stendal und habe, wie sie im Brief zur Schenkung mitteilt, sehr schöne Erinnerungen.