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Vertrieben Vom Exil zurück in die Altmark

Edelgard Bernecker hat als Kind die Altmark verlassen müssen, kehrte vor sieben Jahren aber zurück.

Von Birgit Schulze 22.02.2021, 00:01

Bellingen l Als knapp Dreijährige verließ Edelgard Bernecker mit ihren Eltern die Altmark, weil im Zuge der Zwangskollektivierung von landwirtschaftlichen Flächen ihrem Vater, Paul Gose, die Verhaftung drohte. Die Familie lebte damals in Erxleben, die Eltern ihrer Mutter in Bellingen. „Wir kamen zuerst nach Bremen und blieben dann mehr als zwei Jahre lang in einem Flüchtlingslager in Herford“, erzählt die fast 70-Jährige. Ihr Vater hatte nach der Ausreise aus der DDR immer „so weit weg wie möglich von der Grenze“ gewollt.

Im Herzen aber blieb er Altmärker und das zeigte sich nicht nur in den regelmäßigen großen Altmärkertreffen im Grenzort Zicherie (in dem die Grenze mitten durch einen Kuhstall führte), an denen die Familie teilnahm. Es zeigte sich auch darin, dass regelmäßig ehemalige Altmärker bei ihnen zu Hause zu Gast waren und der Kontakt über Jahrzehnte gepflegt wurde. Auch das im Westen produzierte Heimatblättchen „Unsere Altmark“ hatte ihr Vater abonniert und wenn es Besuch aus dem „Osten“ gab, las auch der gerne, was „drüben“ aus der Altmark berichtet wurde.

Vier mal im Jahr kam es heraus und Edelgard Bernecker hat etliche Ausgaben zwischen 1969 und 1990 bis heute aufgehoben. „Wenn ich im Sommer draußen sitze, dann blättere ich immer noch gern darin“, sagt sie. Zu lesen sind unter anderem Berichte über die Auflösung des Kreises Tangerhütte (1987), die zeitgleich mit Kalbe passierte. Im Kreis Kalbe lebten damals 19 000 Menschen, im Kreis Tangerhütte 21 000, berichtet „Unsere Altmark“. Die Stadt Tangerhütte soll damals 7800 Einwohner gehabt haben (heute sind es knapp 4500).

1969 soll es nach diesen Berichten im Kreis Tangerhütte noch zehn Erwachsenenchöre und sechs Blasorchester gegeben haben. Das Blasorchester des Tangerhütter Eisenwerkes war damals mit 36 Mann das Größte. Elf Tanzkapellen im Kreis, darunter die Instrumentalgruppe des Kreiskulturhauses mit 25 Mitgliedern, werden genannt, außerdem ein Kinder- und Jugendballett und das „Theater der Werktätigen“ in Tangerhütte.

1978 wird von der Polytechnischen Oberschule in Bellingen mit 250 Schülern berichtet, von der Tangermühle in Uchtdorf, von Kinovorführungen im Lüderitzer Park, dem Kinderferienlager in Brunkau, aber auch vom Bau einer 30 mal 30 Meter großen Turnhalle an der Polytechnischen Oberschule in Uetz. Aber auch über eine Nutriazucht in Schernebeck und den Damwildpark in Weißewarte wird geschrieben: Von 17 wildfarbenen und „sieben äußerst seltenen, weißen Tieren“ wird berichtet, von Kutschfahrten und Reittouristik rund um den Park ebenso.

Berichtet wird auch von den Parkfestspielen oder von Neueröffnungen in der damaligen Kreisstadt und den Orten des Kreises, aber auch über zahlreiche Betriebe wie Gaststätten, die LPG-Gärtnerei in Demker oder den Ofensetzerbetrieb in Mahlpfuhl. 1982 heißt es etwa „Über Denkmalschutz wird wieder nachgedacht … Am 1. November 1981 wurde im Kreis Tangerhütte mit der karteimäßigen Erfassung der unter Denkmalschutz gestellten Gebäude und Einzelobjekte begonnen. … Das Schloss in Briest erhielt ein Denkmalschild.“

1982 ist auch über das Buddelschiffmuseum des Tangerhütters Hans Euler Thema, das damals fünf Jahre alt wurde. Und sogar um den Umzug der „Volksstimme“ in der Kreisstadt geht es: „Sie residiert jetzt in der ehemaligen Bauarbeiterunterkunft neben dem Kreisgericht“ heißt es da. Der Sportplatz in Lüderitz erhielt in dem Jahr seine Tribüne, beste Brandschutzgruppe des Kreises wurde die Groß Schwarzlosener Brandbekämpfertruppe und Demker erhielt 450 Pappeln zur Verbesserung der Luftqualität. „Unsere Altmark“ berichtet auch über die Neuausrichtung des Tourismus in der Altmark ab Anfang 1990. Damals wurde für private Zimmervermietung gegen Devisen geworben.

Aber auch die Todesanzeigen waren wichtig für die altmärkischen „Vertriebenen“. Die seien auch aus der Ferne immer gründlich studiert worden, berichtet Edelgard Bernecker. Weitere Zeitungen wie „Das vertriebene Landvolk“ oder das Blatt der Landsmannschaften Provinz Sachsen und Anhalt hat sie bis heute aufbewahrt.

Die 69-Jährige war als Kind in den Ferien regelmäßig im „Osten“. Bei der Verwandtschaft in Bellingen, Erxleben und Schliecksdorf habe sie ihre Sommer verbracht und sich immer besonders frei gefühlt, erzählt sie. „Hier wurde einfach viel mehr für Kinder geboten“. Seither habe auch sie selbst immer dieses Heimweh nach der Altmark gehabt. Ihr Vater Paul ist übrigens bis zur politischen Wende nicht wieder in die Altmark gereist – aus Angst vor den Repressalien dort.

Edelgard Bernecker wird in zwei Wochen 70 Jahre alt und ist mit Ehemann Hans-Jürgen vor sieben Jahren in die Altmark zurückgekehrt. Auf dem Hof ihrer Großeltern Alma und Albert Thiele in Bellingen fühlen sie sich zu Hause. Das große Backstein-Bauernhaus mit Altenteil war zu DDR-Zeiten vermietet, gehörte aber immer ihrer Familie. Ihre Großmutter, die später ausreiste, wurde in Bellingen bestattet.

Der alte Esstisch der Bauernfamilie stand lange Jahre in Herford und ist wie vieles andere wieder nach Bellingen zurückgekehrt. Doch auch alte Wunden gibt es bis heute: „Die LPG hat auf diesem Hof gewirtschaftet, aber nicht einen Pfennig bezahlt“, erzählt Edelgard Bernecker und spricht auch von Grundstücksverkäufen, die ohne Einwilligung der Eigentümer erfolgten.