1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wernigerode
  6. >
  7. Harzer Amtsärztin schlägt Alarm

Corona Harzer Amtsärztin schlägt Alarm

Amtsärztin Dr. Heike Christiansen erläutert im Volksstimme-Gespräch die Pandemie-Situation im Harz.

Von Dennis Lotzmann 14.12.2020, 00:01

Volksstimme: 71 neue Infektionen binnen 24 Stunden von Dienstag auf Mittwoch – ist das der bisherige Rekord für den Harzkreis?
Dr. Heike Christiansen: Ja, dies ist die bisher höchste Zahl. Und die Zahlen bewegen sich aktuell beinahe gleichbleibend auf diesem hohen Niveau.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation im Gesundheitsamt und im Harzkreis ein?
Das Infektionsgeschehen ist endgültig hier angekommen. Es lassen sich in vielen Fällen keine Infektionsketten mehr nachverfolgen. Allerdings gibt es auch Fälle, die hätten vermieden werden können, wenn es den Betroffenen besser gelungen wäre, Abstand zu halten, beispielsweise bei Ansteckungen in Arbeitskollektiven oder in Familien. Aktuell sind 19 Schulen, vier Kitas und sechs Pflegeeinrichtungen betroffen. Auch die Zahl der Personen in Quarantäne ist mit um die 1500 auf einem Höchststand. Nicht mehr viel und es befindet sich ein Prozent der Bevölkerung des Harzkreises in Quarantäne oder Isolierung.

Tragischerweise werden auch immer mehr Todesfälle gemeldet.
Das liegt leider daran, dass mittlerweile immer mehr Senioren- und Pflegeeinrichtungen mit gesundheitlich vorgeschädigten Menschen betroffen sind.

Ist es korrekt, dass aktuell alle Betten auf der Intensivstation der Lungenklinik Ballenstedt voll belegt sind? Ist die Lungenklinik überhaupt noch aufnahmefähig oder ist bereits die zweite Eskalationsstufe eingetreten, sodass Covid-Patienten nun auch in anderen Kliniken im Kreis intensivmedizinisch betreut werden müssen?
Nein. Alle Betten sind bisher noch nicht belegt gewesen. Zumindest ein Bett war immer frei. Trotzdem werden auch Patienten in den anderen Kliniken betreut, beispielsweise aufgrund bestimmter Vorerkankungen, deren Therapie mitunter im Vordergrund steht.

Wie sieht es personell im Gesundheitsamt aus – wie viele Mitarbeiter sind dort gegenwärtig im Einsatz?
Insgesamt besteht das „Coronateam Harz“ aus 128 Mitarbeitern. Davon helfen 37 nur gelegentlich, beispielsweise am Wochenende. Die übrigen Mitarbeiter gehören fest zum Team, das sich aus 43 Mitarbeitern des Gesundheitsamtes, 30 Mitarbeitern aus anderen Ämtern der Kreisverwaltung, sechs aus Landesbehörden sowie sieben Soldaten der Bundeswehr zusammensetzt. Die Mitarbeiter sind auf verschiedene Teams aufgeteilt: Bürgertelefon, Ermittlung, Schreibdienst, Quarantänebetreuung mit Überwachung, Abstrichteam, Verwaltung. Das Ermittlerteam arbeitet einschließlich der Wochenenden in zwei Schichten.

Werden externe Helfer, die freiwillig mit anpacken wollen, noch gebraucht? Wenn ja: Wohin sollen sie sich wenden?
Dem sind wegen des Datenschutzes gewisse Grenzen gesetzt. Es gibt eine Liste mit Hilfsofferten für Menschen in Quarantäne oder Isolierung, in der Angebote gesammelt werden. Dies sind beispielsweise das Ausführen von Hunden, die Erledigung von Einkäufen und Vergleichbares. Hier bieten auch freiwillige/ehrenamtliche Helfer ihre Dienste an.

Und wie sieht es im Corona-Team selbst aus?
Für eine Mitarbeit im Coronateam selbst müssen sich Interessenten bewerben. Es liegen auch einige Bewerbungen vor, wobei der sporadische Einsatz wegen der notwendigen Einarbeitung – es gibt ja ständig Änderungen von gesetzlichen Grundlagen und Empfehlungen – nicht möglich ist. Die Tätigkeit muss im Rahmen der Dienstplanung möglichst in Vollzeit und auch in den beschriebenen Schichten erfolgen. Eine Vorbildung in der Verwaltung oder im medizinischen Bereich ist sehr zu wünschen, weil die Betroffenen oft sehr konkrete und tiefgehende Fragen zur Quarantäne und auch zu gesundheitlichen Belangen haben. Aktuell wird die Personalplanung für das Impfzentrum in Quedlinburg vorgenommen. Hier sind sicher noch Mitarbeiter notwendig. Allerdings sind in erster Linie solche mit medizinischer Ausbildung gefragt.

Sachsen plant ab Montag einen harten Lockdown, in Sachsen-Anhalt geht die Angst eines Einkaufstourismus um. Bundesweit wird der Ruf nach härteren Einschränkungen immer lauter. Sie als Expertin an der Basis: Was würden Sie sich von der Politik auf Bundes- und Landesebene wünschen? Welche Strategie würden Sie fahren, um die weitere Corona-Ausbreitung zu stoppen?
Ich würde mir – wenn ich mal kurz träumen könnte – eine Fee wünschen, die Corona einfach wegzaubert. Aber ganz im Ernst, denn die Realität ist verdammt ernst: Einschneidende Maßnahmen sind aus Sicht des Gesundheitsamtes unumgänglich, wenn der Anstieg der Fallzahlen (siehe Grafik, Anm. d. Red.) gestoppt werden soll. So sollte der Ausschank von heißen alkoholischen Getränken auf der Straße unterbunden werden. Eine nächtliche Ausgangssperre ist zu befürworten. Versammlungen sollten untersagt werden. In Schulen sollte der Präsenzunterricht eingeschränkt oder sie sollten ganz geschlossen werden. Auch wenn dies für die Familien eine große Herausforderung ist.

Das sind ja sehr konkrete Wünsche an die Politik – was wünschen Sie sich von den Bürgern?
1. Dass sich die Bürger an die bekannten AHA-Regeln halten. Also Abstand halten, Hygiene-Regeln beachten und Alltagsmaske tragen.

2. Dass sich alle, die bei sich Erkältungssymptome feststellen, freiwillig für fünf Tage in Isolierung begeben, Rücksprache mit ihrem Hausarzt nehmen, um gemeinsam mit diesem weitere Schritte – auch hinsichtlich einer Testung oder einer Krankschreibung zu verabreden. Oft erfahren unsere Mitarbeiter, dass später positiv Getestete noch mehrere Tage mit leichten Erkältungszeichen gearbeitet haben oder etliche andere Kontakte gehabt haben. Dann gibt es rasend schnell Folgefälle unter Arbeitskollegen, in der Familie oder im Freundeskreis.

3. Dass die Betroffenen bei den Gesprächen mit unseren Mitarbeitern wahrheitsgemäße Angaben zu den Kontakten im erfragten Zeitraum machen. Nicht selten stellt sich im Nachgang bei den Ermittlung zu weiteren Fällen heraus, dass es doch Zusammenhänge gibt. Diese Folgefälle hätten mitunter mit zeitnahen Maßnahmen verhindert werden können.

Immer wieder gibt es Irritationen rund um Quarantäne und Isolation. Kann die Quarantäne vorzeitig beendet werden, wenn ein negatives PCR-Testergebnis vorliegt?
Nein. Die Quarantänezeit für Kontaktpersonen beträgt 14 Tage, weil dies die maximale Zeit ist, in welcher nach dem Kontakt mit einem Infizierten jemand noch erkranken oder selbst zum Virusträger werden kann. Ein Test ist immer nur eine Momentaufnahme. Damit können keine Aussagen für die Zukunft getroffen werden

Weshalb müssen sich positiv Getestete nur zehn Tage in Isolierung begeben, die Kontaktpersonen jedoch 14 Tage in Quarantäne?
Man weiß heute, dass Menschen, die sich infiziert haben, in der Regel bis zu zwölf Tage ansteckend sind – zwei Tage bevor die Infektion überhaupt bemerkt und entdeckt wird und zehn Tage ab dann. Deshalb müssen Infizierte ohne Symptome „nur“ zehn Tage isoliert werden. Menschen, die Symptome zeigen, können bis zu zwei Tage nach der Genesung ansteckend bleiben. Deshalb muss bei ihnen die Isolierung manchmal verlängert werden – bis sie zwei Tage lang symptomfrei sind. Kontaktpersonen müssen für 14 Tage in Quarantäne, weil dies die maximale Zeit ist, in welcher nach dem Kontakt mit einem Infizierten jemand noch erkranken oder selbst zum Virusträger werden kann, man nennt das Inkubationszeit. Es kommt oft vor, dass Kontaktpersonen erst in den letzten dieser 14 Tage erkranken.

Was ist eine „Quarantäne-Erleichterung“?
Dieses Mittel muss mitunter genutzt werden, wenn beispielsweise in einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung die Versorgung der Patienten oder Bewohner nicht mehr sichergestellt werden kann, weil sich viele Mitarbeiter in Quarantäne befinden. Dann „dürfen“ Mitarbeiter, für die die Einrichtung dies beantragt hat, unter bestimmten Schutzmaßnahmen ihre Arbeit wieder aufnehmen, bleiben aber als Privatperson weiter in Quarantäne.

Weshalb muss manchmal nicht die gesamte Familie in Quarantäne?
Wenn ein Schulkind als Kontaktperson nach einem Fall in der Schule in Quarantäne muss, sind Geschwister oder Eltern zunächst nur Kontaktpersonen zu dieser Kontaktperson, hatten ja selbst keinen Kontakt zum Kranken. Deshalb müssen sie nicht in Quarantäne. Dies ist erst der Fall, wenn auch das Kind dieser Familie positiv getestet wird. Dies birgt natürlich ein gewisses Restrisiko, trägt aber der Tatsache Rechnung, dass es sich bei der Quarantäne um eine einschneidende freiheitsentziehende Maßnahme handelt. Und 14 Tage daheim sein zu müssen, ist nicht ohne.

Sollten nicht alle, bevor sie aus der Quarantäne entlassen werden, erneut getestet werden?
Das wäre wünschenswert. Allerdings ist das aus Gründen der Kapazitäten nicht mehr möglich. Das erfolgt aber nach wie vor bei medizinischem Personal und Bewohnern von Pflegeeinrichtungen.

Allerorten wird aktuell über einen vorgezogenen Weihnachts- und Jahreswechsel-Lockdown diskutiert.
Für die bevorstehenden Feiertage sollte sich jede Familie überlegen, welche Aktivitäten unbedingt nötig sind. Aus den Erfahrungen unserer Fall-Ermittlungen muss von Familientreffen dringend abgeraten werden. Es ist schwierig, von lieb gewordenen Gewohnheiten und Traditionen Abstand zu nehmen – es ist aber der vernünftigere Weg.

Was geben Sie den Harzern noch mit auf den Weg?
Bitte planen Sie das Weihnachtsfest im kleinen Kreis. Wenn die Eltern nicht allein sein sollen, bitte nicht alle gemeinsam als Gesamtfamilie treffen und bitte auch nicht an Heiligabend den einen Familienteil besuchen, am 1. Feiertag den nächsten und dann am 2. Feiertag die Oma. So werden die Infektionen kaum noch nachvollziehbar weiter getragen. Beraten Sie in den Familien, wer sich mit wem im kleinen Kreis trifft, bilden Sie möglichst kleine „Grüppchen“, die sich dann nicht untereinander mischen. Gerade die Menschen, an denen uns gelegen ist, gefährden wir mit diesen Besuchen besonders stark. Gerade gab es auch im Harzkreis wieder zwei Todesfälle unter älteren Betroffenen.

Anmerkung: Das Interview mit Dr. Heike Christiansen wurde am 11. Dezember geführt. Dr. Sheila Holler, Vize-Chefin im Gesundheitsamt, hat die am Sonntag  (13. Dezember) auf Bundes- und Landesebene getroffenen Entscheidungen als die einzig richtigen begrüßt.