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Evakuierung Mörsergranate in Derenburger Mietshaus

Nach dem Fund einer Granate in Derenburg mussten 70 Menschen vorübergehend ihre Wohnungen verlassen. Das Geschoss stammt von der Bundeswehr.

Von Dennis Lotzmann 23.07.2019, 15:39

Derenburg l Aufatmen nach dem turbulenten Montagabend in der Pfeifferstraße in Derenburg: Bei der 120-Millimeter-Wurfgranate, die in einer Mietwohnung gefunden worden war, handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine Mörser-Übungsgranate aus dem Bestand der Bundeswehr. Nachdem Experten des polizeilichen Kampfmittelbeseitigungsdienstes dies am späten Abend festgestellt und Feldjäger der Bundeswehr die Kriegswaffe zum Abtransport übernommen haben, können rund 70 Bewohner, die Stunden zuvor im größeren Umkreis ihre Wohnungen hatten verlassen müssen, aufatmen und zurückkehren.

Gleichwohl bleiben auch am Tag danach viele Fragen: Woher stammt die in ihrer Wirkung – wenn es sich um ein scharfes Geschoss handelt – tödliche Kriegswaffe? Wer ist der 46-Jährige, der in der Wohnung lebte und sich jetzt wegen anderer Delikte in Untersuchungshaft befindet? Und: Handelt es sich tatsächlich um eine ungefährliche Übungsgranate, wie die Aufschrift „EX“ suggeriert? Jenes „EX“ steht für Exerzier-Granate, die mit scharfen Waffen hinsichtlich Form und Gewicht identisch ist, damit Soldaten den Umgang mit ihr ohne jede Eigengefährdung üben können.

Die alarmierten Feldjäger der Bundeswehr lassen sich von den aufgesprayten Buchstaben jedenfalls nicht blenden. Sie gehen auf Nummer sicher, behandeln den Sprengkörper wie ein scharfes Geschoss und transportieren ihn in einer Spezialkiste für Fundmunition ab. Schließlich, gibt ein Feldjäger zu bedenken, könne allein mit Spray und Schablone eine scharfe Granate binnen kürzester Zeit zu einer angeblich ungefährlichen EX-Granate umdeklariert werden. Mit verheerenden, tödlichen Folgen.

Der Abtransport mit Polizeieskorte ins Sanitäts-Versorgungsdepot der Bundeswehr nach Blankenburg markiert in der Nacht zum Dienstag den vorläufigen Schlussstrich unter dem stundenlangen Einsatz von Polizei, Tierrettung, Feuerwehr sowie Kampfmittelexperten und Bundeswehr. Erst danach können die 70 betroffenen Anwohner – davon 30 im unmittelbaren Umfeld – aufatmen.

Zuvor ist es im Umfeld der Pfeifferstraße heiß hergegangen. Auslöser ist nach Recherchen der Volksstimme die Festnahme des 46 Jahre alten Mieters der Einraumwohnung, in der später die Granate gefunden wird. Der Mann hat in Derenburg den höchst zweifelhaften Ruf eines unbelehrbaren Rasers.

Er wurde nach Recherchen der Volksstimme Stunden zuvor am Montag in seiner alten Heimat – im thüringischen Gera – festgenommen. Gegen ihn lag ein Untersuchungs-Haftbefehl wegen anderer Delikte vor. Womöglich schnappte die Falle zu, weil er in Thüringen wegen Fahrens ohne Führerschein erwischt wurde.

Parallel dazu werden am Montag Beamte des Harzer Polizeireviers auch an der heimischen Wohnanschrift des Mannes vorstellig, um den Haftbefehl zu vollstrecken. Weil sich Nachbarn an die Katzen erinnern, die der 46-Jährige in seiner Wohnung hält, werden die Tierretter der Blankenburger Feuerwehr alarmiert. Als gegen 18.15 Uhr im Beisein der Polizeibeamten die Wohnung geöffnet wird, fällt deren Blick auf die in einem Plastgestell gelagerte Mörser-Granate.

Augenblicke später läuft die gesamte polizeiliche Maschinerie an. Andreas Bernhardt, am Montagabend Leitender Einsatzbeamter vom Dienst im Harzer Polizeirevier, springt in seinen Einsatzwagen, setzt das Blaulicht und fährt nach Derenburg. Parallel dazu werden 17 Einsatzkräfte der Derenburger Feuerwehr alarmiert, um das Areal abzusperren und Menschen in Sicherheit zu bringen. Schließlich weiß zu diesem Zeitpunkt niemand verlässlich, wie gefährlich die Granate tatsächlich ist.

„Wir müssen auf Nummer sicher gehen“, sagt André Salomon, Derenburgs Ortsbürgermeister (WG Feuerwehr) und zugleich Feuerwehrchef. Inklusive Tierrettern sind schließlich insgesamt 20 Kameraden rund um die Pfeifferstraße im Einsatz, fünf befinden sich im Feuerwehrgerätehaus. „Wir richten dort eine Notunterkunft ein, damit wir die Leute unterbringen“, sagt Salomon.

Vorerst warten die Mieter aus den Häusern Nummer 2 und 2a auf dem Parkplatz hinter dem Haus. Einige begeben sich in Richtung Gartengrundstück oder zu Freunden und Bekannten. Nachbarn haben zwei Familien mit kleinen Kindern bei sich aufgenommen. „Die Nachbarschaftshilfe funktioniert“, resümiert Polizeihauptkommissar Bernhardt erfreut.

Dann heißt es: Im Radius von 120 Metern sollen die Einwohner evakuiert werden. Salomon sagt, man wisse nicht, wer zu Hause sei und wer nicht, wer möglicherweise im Urlaub ist. Die Feuerwehrleute gehen von Haus zu Haus, klingeln, sprechen mit den Bewohnern, die sie antreffen. Am Ende sind es 29 Personen, die ihre Häuser verlassen müssen.

Auch Marion Tacke geht mit den Beamten durch die Häuser und klopft an die Türen ihrer Mieter. Die Derenburgerin verwaltet die Immobilien ihrer Familie in der Pfeifferstraße und hilft bei der Evakuierung. „Die Leute, die auf der Straße standen, haben es mit Humor genommen“, sagt sie später. Mancher habe zur Abendbrotzeit auf einen Imbiss im Feuerwehrgerätehaus gehofft – vergeblich.

Gegen 21 Uhr sind die Biertischgarnituren, die im Gerätehaus schnell aufgestellt worden sind, noch weitgehend leer. Jennifer Hatzel sitzt mit ihrem Freund Nico Sonntag und einer Nachbarin dort. „Wir haben nur schnell das Wichtigste geholt“, sagt die 26-Jährige – die Papiere und Katze „Pina“, die in einem Käfig hockt. Als es an der Tür klopfte, fielen die beiden aus allen Wolken. „Man erwartet so etwas ja nicht.“ Der Mann, der das Drama ausgelöst hat, wohnt eine Etage über ihnen. Gekannt habe man sich im Haus nicht, sagt Jennifer Hatzel: „Man hat höchstens Hallo gesagt.“

Der 46-Jährige ist nach Recherchen der Volksstimme aus polizeilicher Sicht kein unbeschriebenes Blatt. Weshalb er mit Haftbefehl gesucht wurde, blieb am Dienstag jedoch unklar. Er soll jetzt in einer Vollzugsanstalt in Thüringen einsitzen. Und er wird sich auf weitere unangenehme Frage einstellen müssen. Nach dem Fund der Granate wird gegen ihn wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz ermittelt.

Ein Verbrechenstatbestand, der mit mindestens einem Jahr Haft bestraft werde, so Hauke Roggenbuck, Chef der Staatsanwaltschaft in Halberstadt. Gutachter und Waffenexperten sollen nun helfen, die Gefährlichkeit des sichergestellten Geschosses zu analysieren. „Auch wenn es sich tatsächlich um eine Übungsgranate handelt, hätte der Mann sie niemals privat besitzen dürfen“, so eine Sprecherin des Landeskommandos der Bundeswehr.

Wehrchef Salomon freut sich derweil über die Bilanz der Feldjäger nach dem alles andere als alltäglichen Einsatz: „Alles sei richtig gut gelaufen, haben sie erklärt.“