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Klimawandel In Harzer Wäldern steigt Unfallgefahr

Ein tödliches Unglück im Bodetal schockt den ganzen Harz. Das Unfallrisiko in Wäldern steigt. Doch die Rechtslage ist eindeutig.

Von Dennis Lotzmann 09.10.2020, 19:26

Stiege l Rot und golden schimmert das Laub in der Herbstsonne. Die Idylle im Wäldchen auf dem Mühlberg bei Stiege ist scheinbar ungetrübt. „Scheinbar“, sagt Eberhard Reckleben und deutet in die Baumkronen: Der Chef des Forstbetriebs Oberharz zeigt auf kahle Äste, die zwischen den – noch – belaubten kaum zu erkennen sind. „Wir bekommen seit 2018 den Klimwandel mit voller Wucht zu spüren“, erläutert der Fachmann.

Denn Trockenheit und Hitze der vergangenen Jahre sorgten nicht nur für ein flächendeckendes Fichtensterben im Harz. Auch Laubbäume wie Buchen oder Eichen könnten den sich verändernden Bedingungen nicht standhalten. Die machen in Recklebens Zuständigkeitsbereich – knapp 20 000 Hektar zwischen Wernigerode, Elend, Benneckenstein und Stiege – zwar nicht einmal 20 Prozent des Waldbestands aus. Doch von ihnen gehe eine größere Gefahr aus als von Nadelbäumen: „Buchenholz zersetzt sich viel schneller und aus den Kronen herausbrechende Äste sind schwerer als die von Fichten.“

Die latente Gefahr, die von Wäldern ausgeht, war im September im Zusammenhang mit einem Unglücksfall deutlich geworden. Im Bodetal war zwischen Altenbrak und Todtenrode scheinbar ohne jedes Anzeichen ein Ast herabgefallen und hatte eine Frau und ihr dreieinhalb Monate altes Kleinkind getroffen. Der Säugling starb wenig später an den Folgen, seine Mutter überlebte mit schwersten Verletzungen. Das tragische Unglück hat in der gesamten Region für große Bestürzung gesorgt.

Im betreffenden Waldgebiet sei „seit diesem Sommer ein verstärktes Buchensterben festzustellen“, heißt es dazu vom Landesforstbetrieb auf Volksstimme-Anfrage. Absterben würden meist ältere Bäume, die im Frühling noch austrieben, im Laufe des Sommers aber vertrockneten.

Dazu kämen Pilze wie Diplodia, die Rußrindenkrankheit sowie Eschentriebsterben und Borkenkäfer. „Auf Buchen breitet sich eine andere Art aus als der von Fichten bekannte Buchdrucker“, erläutert Reckleben. Die Schädlinge seien aber niemals „primäre Ursache“ für den Tod eines Baumes, „beschleunigen aber den Prozess“.

So stünden die Waldbesitzer „vor einem Riesendilemma“, sagt der Förster. „Dabei ist die Rechtslage eine Seite, ein tragisches Unglück wie das im Bodetal die andere.“ Die gesetzlichen Rahmenbedingungen indes sind eindeutig: In Paragraf 22 des Landeswaldgesetzes heißt es: „Das Betreten und Nutzen der freien Landschaft geschieht auf eigene Gefahr.“ Dies gelte insbesondere für Risiken, die vom Zustand des Waldes und der Wege ausgehen. Allein Gefahren, die von Wäldern auf außerhalb liegende und direkt angrenzende öffentliche Straßen und Wege ausgehen könnten, müssten Waldbesitzer laut Landesforstbetrieb im Rahmen einer Verkehrssicherungspflicht ausschließen.

Ein gesetzlicher Rahmen, der nunmehr auch bei der juristischen Aufarbeitung des tödlichen Unglücks eine Rolle spielen dürfte. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Halberstadt prüft nach Angaben von Behördensprecher Hauke Roggenbuck von Amts wegen, ob sich jemand sorgfaltswidrig verhalten hat. Bislang gebe es dafür keine Anhaltspunkte und folglich auch keinen Anfangsverdacht gegen eine Person. Vielmehr gehe man beim tödlichen Astabbruch nach bisherigem Ermittlungsstand von einem sogenannten Sommerbruch an einer Buche aus. Und der falle in die Kategorie der typischen Waldgefahren. Was die Brisanz deutlich macht und in eine Kernfrage mündet: Bleibt langfristig nur die Sperrung kompletter Wälder für Wanderer, Radfahrer und Pilzesucher? „Nein, das können wir Waldbesitzer ohnehin nur für den Zeitraum von Arbeiten in den jeweiligen Waldstücken“, so Reckleben. Alles andere sei Sache der Kommunen. Doch die Einschätzung, welche Gebiete für die Öffentlichkeit abgeriegelt werden müssen und welche nicht, hält der Forstfachmann für „äußerst schwierig“. Gleichzeitig ist er sich jedoch sicher: „Wir können nicht den kompletten Harz sperren.“

Im selben Atemzug stellt er die Frage nach dem Risikobewusstsein der Menschen: „Wenn ich ins Auto steige, bin ich mir der Gefahr eines Unfalls bewusst – aber wer denkt daran schon im Wald?“ Diese Gefahr sei gestiegen, gesteht der Forstbetriebschef unumwunden ein.

„Gehen wir davon aus, dass auf einem Hektar Wald im Schnitt 250 Bäume stehen: Das ist unmöglich zu kontrollieren“, sagt Reckleben. Zumal er und seine Kollegen ohnehin kaum noch wüssten, wo ihnen der Kopf steht. Seit 2017/18 seien allein in den Revieren des Forstbetriebs Oberharz 1,5 Millionen Festmeter Holz geschlagen worden. So auch am Stieger Mühlberg, einem bei Touristen kaum bekannten Ziel, das vor allem den Einheimischen als Erholungsort und Ziel für Spaziergänge diene. „Doch wir müssten schon wieder ran“, sagt Reckleben und blickt auf die Bäume am Wegrand – und deren kahle Äste.