Nationalpark Harz Auf dem Weg zur Wildnis

Kahle Flächen, tote Bäume - im Brockenwald sieht es chaotisch aus. Der Nationalpark-Leiter erläutert, warum dieser Zustand gewollt ist.

Von Regina Urbat 14.10.2017, 01:01

Wernigerode l Die augenscheinlichen chaotischen Zustände entlang der Brockenstraße schockieren viele Wanderer. Was ist los im Brockenwald? Wird der Nationalpark Harz der Borkenkäferplage nicht mehr Herr? Stirbt gar ein ganzes Waldgebiet? Andreas Pusch kennt all diese Fragen und ist, wie der Nationalparkleiter im Volksstimme-Gespräch beteuert, „gern und immer wieder bereit, Rede und Antwort zu stehen“.

„Zunächst erst einmal: Hier stirbt kein Wald“, sagt der 62-Jährige und fügt hinzu: „Sicher muten wir den Brockenwanderern derzeit viel zu. Und sicher sind die derzeitigen Waldbilder gewöhnungsbedürftig.“ Aber: „Die Besucher befinden sich im Nationalpark und nicht in einem aufgeräumten Wirtschaftswald“, führt Andreas Pusch weiter aus.

Was beide Waldtypen gemein haben, seien Borkenkäfer-Arten wie Buchdrucker und Kupferstecher. „Nur wir bekämpfen sie nicht, sondern nutzen sie für einen neuen Naturwald.“ Im Wirtschaftswald seien sie Schädlinge, im Nationalpark Nützlinge. „Nicht für jedermann verständlich auf den ersten Blick.“ Die Insekten würden dank ihrer Lebensweise die im Stamm alter Bäume gespeicherten Nährstoffe rasch wieder dem Kreislauf des ökologischen Systems zuführen.

Diese natürliche Waldentwicklung gehe mit dem Klimawandel einher. Die globale Erwärmung macht vor dem Harz keinen Halt. Laut statistischer Angaben hat sich die Durchschnittstemperatur auf dem Brocken in den vergangenen 100 Jahren um mehr als zwei Grad Celsius erhöht. „Die Folgen sind bei uns im Harz intensiv verknüpft mit dem Fichtenborkenkäfer und seiner Wirkung, sprich Waldschäden“, so Andreas Pusch. Er gibt zu, dass sich die Käferplage rasanter entwickelt habe, als noch vor zehn Jahren angenommen.

Doch wer behaupte, dass der Nationalpark schuld sei, weil er die Borkenkäfer nicht rigoros bekämpfe, „der nimmt auch an, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet“, sagt Andreas Pusch, der seit 2006 Leiter des rund 250 Quadratkilometer großen, länderübergreifenden Harzer Schutzgebietes ist. Vor allem im stark zerklüfteten Gelände des Parks sei die Bekämpfung „unmöglich“. Den Sommer über müsste jemand jede Woche die Bäumbestände nach Befall überprüfen. „Das ist im ebeneren Wirtschaftswald, wo die Fichten in Reih und Glied stehen, möglich. Bei uns nicht.“

Deshalb werde in den Kernzonen des Parks nicht, wie sonst üblich, der Versuch unternommen, die Vermehrung des Borkenkäfers durch Motorsäge, Schäleisen und Lockstoff-Fallen zu stoppen. „Hier soll sich die Natur möglichst aus eigener Kraft helfen. Und das tut sie auch.“ Erste Erfolge seien bei genauer Betrachtung zu erkennen. „Viele kleine lichthungrige Ebereschen erobern die entstandenen Freiflächen zurück, und es folgen – je nach Höhenlage – Buchen und junge Fichten.“

In dieser Phase des Waldwandels wachse in der Regel die Krautvegetation explosionsartig, zum Beispiel am Goetheweg. Das wiederum rufe zahllose Schmetterlinge und Käfer auf den Plan. „Wanderer berichten von einem Geflatter und Gebrumme, das sie faszinierte.“ Weitere Beispiele, wo der Wald nach einer Borkenkäferinvasion stark geschädigt war und nun eine neue Waldentwicklung begonnen habe, seien im Bereich Eckertal und am Hohnekamm zu sehen. „Besonders deutlich aber auch am Meineberg bei Ilsenburg“, sagt Andreas Pusch.

Eberesche, Weide und Birke sowie Buchen setzen sich dort durch. Sie gehören in dieser jungen Entwicklungsphase zur natürlichen Waldvegetation. „Der neu entstandene Mischwald entwickelt sich selbst bei hoher Luftbelastung und Wildverbiss kräftig weiter.

Für diese natürliche Waldentwicklung seien umgestürzte und liegengebliebene Baumstämme eine „unverzichtbare Voraussetzung“. Auch in der Menge, wie sie derzeit an der Brockenstraße anzutreffen sei. „Im Randbereich wurden die Bäume aus Sicherheitsgründen für die Wanderer gefällt. Doch auch diese Stämme, bleiben lieben, wir schaffen nichts raus“, sagt der Nationalparkleiter, selbst wenn die Ranger oftmals dafür Schelte abbekämen. „Wir lassen dort kein Geld liegen, wie vielfach von einigen Leuten vorgeworfen.“

Vielmehr würden Holzstämme und Asthaufen genutzt – zunächst zum Schutz für sich darunter entwickelndes neues Leben und vor Wildverbiss, was eine Verjüngung des Waldes bremst. „Kein Rotwild klettert gern.“ Im Verwesungsprozess der Stämme und des Gestrüpps würden dann die Nährstoffe wieder frei, erklärt der Parkchef.

Ist also das „Chaos“ im Brockenwald Garant für einen lückenlosen natürlicher Kreislauf? Andreas Pusch zögert nicht und antwortet mit „ja“. Die Angst um den Wald im Nationalpark Harz sei unbegründet: „Der Wald kehrt zurück – artenreicher und vielfältiger.“ Wie lange es dauert bis zur völligen Entfaltung? „Sicher Jahrzehnte“, sagt der Parkrschef.

Der Nationalpark-Status biete aber jetzt die einmalige Chance, die Fichtenwälder des Hochharzes zu renaturieren. Ganz behutsam werde hier die natürliche Umwandlung der ehemaligen Nutzwälder in Naturwälder gefördert. Das „Waldsterben“ sei dabei ein Problem und eine Chance zugleich. Totholz in größeren Mengen sei in einem Nationalpark etwas ganz normales. Und dies werde nicht zum Schaden der touristischen Entwicklung im Harz sein, „wenn wir es gut erklären“, glaubt Pusch.

Dass in dieser Hinsicht gerade aktuell Nachholbedarf besteht, weil selbst Harzbewohner den Waldzustand harsch kritisieren und an einen natürlichen Waldwandel nicht glauben wollen, gibt Andreas Pusch zu. „Ja, wir müssen das Thema besser kommunizieren.“ Zwar gebe es Informationsmaterial, auch halte er oft Vorträge – „aber scheinbar reicht das nicht“. Für die Brockenstraße werde man sich etwas einfallen lassen. Fest stehe, fügt er hinzu, bei der Umgestaltung der Ausstellung im Brockenhaus werde der Waldwandel-Prozess im Nationalpark berücksichtigt.

Neben dem „Schutz“ der Borkenkäfer habe der Nationalpark ebenso die Pflicht, ihre Übergriffe auf benachbarte Wirtschaftswälder zu verhindern. So würden die Borkenkäfer in einem 500 Meter breiten Sicherheitsstreifen zu den angrenzenden Forstämtern fachmännisch bekämpft.

Durch Abholzung und Abtransport, wie zum Beispiel am Anfang der Brockenstraße hinter dem Ortsausgang von Schierke. Außerdem wurden entlang von öffentlichen Straßen, an besonderen touristischen Anziehungspunkten wie Schutzhütten und Themenwegen sowie entlang der Harzer Schmalspurbahnen, besonders auf der Route zum und vom Brocken, zur Verkehrssicherung tote oder absterbende Bäume gefällt, „um die Nationalpark-Besucher zu schützen“, sagt Andreas Pusch. Denn es gebe nur eine Alternative: „Wir sperren den Park ganz, bis die Bäume von selbst umgekippt sind und keine Gefahr mehr für Wanderer besteht.“ Diese Möglichkeit gefalle ihm jedoch „ganz und gar nicht“.