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Abschied Waltraud Wolff sortiert 19 Jahre Bundestag

Waltraud Wolff saß 19 Jahre für die SPD im Bundestag. Nun ist Schluss. Die 61-Jährige hat ihr Büro in Wolmirstedt geräumt.

Von Gudrun Billowie 18.10.2017, 01:01

Wolmirstedt l Waltraud Wolff zieht weiße Buchstaben vom azurblauen Banner. ...an Enkel denken und verantwortungsvoll sein..., ist dort zu lesen. Innerhalb von Minuten geht auch dieses Fragment eines Satzes ins Reich der Erinnerung über, die Buchstaben werden Wort für Wort abgepult, zusammengeknödelt und in den Abfalleimer geworfen. Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete räumt ihr Büro. Zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen Eva Marquardt und Annette Wilke werden 19 Jahre Bundestagsarbeit sortiert, archiviert, geschreddert oder verschenkt.

Die Erinnerungen bekommen bei dieser Arbeit Hochkonjunktur. Wann war das, als es so plakativ darum ging, an Enkel zu denken und verantwortungsvoll zu handeln? Bei Annette Wilke blitzt die Erinnerung auf. Sie bringt dieses Plakat in Verbindung mit einer Tagung, bei der auch Franz Müntefering anwesend war. Stimmt, bestätigt Waltraud Wolff. In ihrem Kopf drängen sich so viele Erinnerungen an politische Runden, da ist nicht jede gleich greifbar.

19 Jahre Bundestag, das ist die Zeit, die ein Mensch von der Geburt an braucht, um erwachsen zu werden. Waltraud Wolff denkt gerne daran, aber 19 Jahre waren genug. Zur Bundestagswahl am 24. September ist sie nicht mehr angetreten, auf den Wahlzetteln fehlte ihr Name als Direktkandidatin. Das ist fast vier Wochen her.

Dem berüchtigten schwarzen Loch scheint die Wolmirstedterin seither noch nicht begegnet zu sein. Sie freut sich auf ihr kommendes Leben, hat Pläne, telefoniert weiterhin viel, trifft Menschen, weiß, wie sie die nächsten Wochen und Monate verbringen wird. „Im November werde ich mit Freunden in den Urlaub nach Dänemark fahren.“

Ein wenig leuchtet in ihren Augen die Vorfreude. Vor allem aber verrät ihr angespannter Blick, dass sie noch ganz in der Gegenwart steckt, auch dem Bundestag gelten noch die Gedanken, noch bis Juli wurden dort Gesetze beschlossen. Dann hat sie ihr Berliner Büro geräumt, jetzt räumt sie in Wolmirstedt weiter und ist trotzdem durchdrungen davon, anderen in irgendeiner Weise zu helfen.

„Das habe ich immer versucht“, sagt sie, „ich habe nie gesagt, dass ich nicht zuständig bin.“ Die Menschen kamen mit ganz unterschiedlichen Anliegen. Sie beschwerten sich über fehlende Straßenbeleuchtung, suchten Hilfe bei Vereinsgründungen oder wenn es Schwierigkeiten im Gesundheitsbereich gab oder bei Problemen mit dem Jobcenter. Oft habe sie Antragsformulare mit ausgefüllt oder Termine mit Behörden gemacht. Bei Bedarf sei sie mit den Betroffenen zusammen dorthin gegangen und hat manchmal erlebt, dass Menschen ihr Recht erst bekommen, wenn sie nicht allein darum kämpfen müssen, sondern beispielsweise eine Bundestagsabgeordnete an ihrer Seite steht.

Als Bundestagsabgeordnete hat Waltraud Wolff viel Zeit in Berlin verbracht. Wofür, wird ihr wohl erst in den nächsten Monaten klar, sie kann nachlesen, die Dokumente liegen ihr vor. „Mir wurden gerade dicke Ordner mit meinen Reden zugeschickt, ich wusste gar nicht mehr, dass so viele zusammengekommen sind.“ 110 Mal hat sie im Plenarsaal gesprochen, zur Landwirtschaft, zur Behindertenarbeit, zu Morsleben...

Ehrenamtlich engagieren will sie sich weiterhin. Seit fast vier Jahren ist Waltraud Wolff Landesvorsitzende der Lebenshilfe-Elternvereinigung, diese Arbeit im Sinne behinderter Menschen und ihrer Angehörigen soll künftig mehr Raum bekommen. Auch ihr Platz im Wolmirstedter Stadtrat soll künftig regelmäßig besetzt sein. Der Stuhl war oft leer geblieben, wenn in Berlin gerade Sitzungswochen angesetzt waren.

Als Stadträtin möchte sie mitwirken, Wolmirstedt barrierefrei zu gestalten. „Es geht um mehr, als um Treppen“, sagt sie, „es geht um einfache Sprache, auch darum, dass sich sehbehinderte Menschen zurechtfinden.“ Dieses Ansinnen ist nicht neu, für die Barrierefreiheit des Bahnhofes hat sie schon viele Hebel in Bewegung gesetzt. Der Kampf geriet jedoch ein wenig wie der sprichwörtliche Kampf gegen Windmühlen, die Bahn hat immer wieder vertröstet und Termine verschoben. Waltraud Wolff ärgert sich darüber noch immer: „So verschaukelt worden bin ich noch nie, wie von der Bahn.“ Derzeit ist geplant, den Tunnel samt Aufzug bis 2020 zu bauen.

Die Büromitarbeiterinnen Eva Marquardt und Annette Wilke sind viele Wege mit Waltraud Wolff gemeinsam gegangen, haben den Alltag organisiert, in Wahlkampfzeiten geholfen, waren quasi das Bodenpersonal für die Abgeordnete. Mit Waltraud Wolffs Ausscheiden aus dem Bundestag endet auch für sie ein Berufsabschnitt. Gern wären sie mit Waltraud Wolff noch älter geworden, nun helfen sie, Akten zu schreddern. Wieviele Säcke zusammengekommen sind, haben sie nicht gezählt.

Die Möbel hat Waltraud Wolff an Flüchtlinge verschenkt, die Telefonanlage, Beamer und andere Technik dem Jugendclub übergeben. Trotzdem ist das Büro noch nicht leer, welche Spuren zuletzt beseitigt werden, wird sich zeigen. Vielleicht sind es die von Kindern gemalten Bilder, die an die Wände gepinnt sind, vielleicht das rote Blechschild, auf dem steht: Hier wird SPD gewählt, vielleicht auch ganz schnöde der Staubsauger. Was auch immer zuletzt aus den Zimmern getragen wird, es wird nicht mehr lange dauern, dann erinnert in den Räumen im Haus kurz vor den Bahnschranken nichts mehr an ein SPD-Wahlkreisbüro.

Dann bricht die Zeit an, in der Waltraud Wolff einfach Waltraud Wolff sein kann. Vier Kinder hat sie und ist fünffache Oma. Privatleben wird künftig größer geschrieben. „Ich möchte Thai Chi machen, im Chor singen, im Garten arbeiten“, schwärmt sie. Und plötzlich leuchten die Augen.