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Eine Hörsingerin betreut ihren kranken Ehemann zu Hause - abseits konventioneller Pflege. Das lange Warten auf Hartmut

Von Mandy Ganske-Zapf 20.07.2012, 03:15

Ein Krankenbett im Wohnzimmer: Hartmut Krüger liegt darin, die Augen geschlossen. Er registriert alles, was um ihn herum passiert. Da ist sich seine Frau sicher. Wie intensiv genau, bleibt ihr aber verborgen, denn er ist im Wachkoma. Seit drei Jahren. Aber mitten in seinem alten Leben. Astrid Krüger pflegt ihn zu Hause, das war keine Frage.

Hörsingen l Die Familie um Astrid Krüger ist groß, sie allein hat sechs Geschwister. Mit vier davon, der Schwiegermama, ihren zwei erwachsenen Töchtern, dem Enkelsohn, den Eltern sowie Neffe und Nichte mit ihren jeweiligen Partnern sitzt sie gerade vor dem brüderlichen Haus beisammen. Die Familientradition lebt. Bei einem jährlichen großen Beisammensein gibt es für alle Frühstück und drei Gaudi-Spiele. Wer die meisten Punkte hat, gewinnt. Am Tisch fehlt Hartmut, Astrids Mann. Er soll noch kommen.

Pfleger Jörg Falke ist bei dem 52-Jährigen zu Hause und bereitet ihn für den Spaziergang vor. Anziehen, in den Rollstuhl setzen und über die Rampe das Haus verlassen - das braucht Zeit. Heute mehr als sonst, weil Hartmut Krüger ein wenig länger schlafen wollte als gewöhnlich. Seine Bedürfnisse sind für Astrid Krüger und den Pflegedienst, der sie 24 Stunden am Tag unterstützt, Gesetz. Soll er an diesem Sonntag also etwas länger schlafen. Das Familientreffen darf er aber nicht verpassen. Denn vor sieben Jahren hat ihr Ehemann die Tradition mit initiiert und den Wanderpokal für den jährlichen Sieger gebastelt. Ein gold gefärbter Blumentopf. Vier Jahre darauf hat sich ihr Mann verschluckt, und sein Gehirn war bis zum Eintreffen des Notarztes zu lange nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt - trotz Herz-Druck-Massage. Seitdem ist er im Wachkoma, in einem andauernden Dämmerzustand.

Trotzdem lebt sie mit ihrem Mann ein ganz geregeltes Leben, jedoch kein normales. Morgens drückt sie ihn sanft, gibt ihm einen Kuss, und es wird gemeinsam gefrühstückt - ihr Mann über die Magensonde, Astrid Krüger isst am Tisch. Während die 51-Jährige dann ihrer Arbeit im Drei-Schicht-System bei einem Logistikkonzern nachgeht, hat auch Hartmut gut zu tun. Er erhält Therapien: Logopädie für die Mimik und Gestik, Physiotherapie für den Aufbau der Muskulatur und Ergotherapie für die Feinmotorik. Nachmittags gibt es einen Spaziergang.

So oft es geht, ist seine Frau dabei und hält ihn an der linken Schulter - damit er sie bei sich weiß. Seit kurzem kann Hartmut Krüger wieder ab und zu schlucken und die Stirn runzeln. Das sind Fortschritte. "Zu Beginn war er noch an einer Beatmungsmaschine. Das ist nicht mehr so. Mit viel Arbeit hat sich im Laufe der Zeit sein Zustand deutlich verbessert: Er hält seit kurzem sogar den Kopf."

Sonst wirkt er schlafend, auch wenn er es nicht tut. Und wenn Astrid Krüger mit ihrem Mann spricht, dann so natürlich wie möglich, aber ganz nah vor dem Gesicht. Dann kann er sie eher verstehen. Wenn er blinzelt, heißt es "ja". Sie kennt ihn wie keinen anderen Menschen, nach mehr als 20 Ehejahren.

Astrid Krüger wirkt bestimmt, souverän und ist gut organisiert. Das war nicht immer so. "Die ersten zwei Jahre waren hart", blickt sie zurück. Als die Diagnose kam, hieß es zuerst Pflegeheim. Das aber kam für sie und genauso für ihre beiden Töchter einfach nicht in Frage. Solange noch kein Pflegedienst gefunden und fest arrangiert war, blieb den drei Frauen für einige Wochen aber nichts anderes übrig. Dann holten sie ihn nach Hause. Viele in ihrer Umgebung verstehen bis heute nicht, warum. Ärzte und Pfleger dagegen finden toll, dass sie sich dafür entschieden haben. Etwas Besseres könne es nicht geben.

"Auf dem Land ist man wirklich aufgeschmissen."

Astrid Krüger wankte lange Monate durch dieses neue Leben zwischen Begreifen, Verzweifeln und Funktionieren. Und ging den eingeschlagenen Weg mit den Töchtern an der Seite immer weiter. Tatsächlich hat sie dabei an alles gedacht, was gute häusliche Pflege auf Dauer braucht: Der Pflegedienst betreut ihren Mann rund um die Uhr, fünf Krankenschwestern und Pfleger gehören zum Team. Wenn sie nicht arbeitet, ist sie bei ihm. Auch Tochter Jennifer, die im Haus in der oberen Etage wohnt, ist für Hilfe stets zur Stelle. Sie stimmen sich so ab, dass immer einer von ihnen zu Hause ist. Rückzugsräume für das Pflegepersonal und für sie selbst gibt es außerdem. Astrid Krüger hat ein eigenes Zimmer, ebenso die Pfleger und Schwestern. Sie sagt: Es geht alles, aber keiner weiß, dass es solche Möglichkeiten überhaupt gibt. Die Kosten teilen sich die Kranken- und die Pflegekasse.

Vor wenigen Monaten dann der Schreck: Der Hausarzt, der ihren Mann seit 20 Jahren behandelt hat, ging in Rente. Einen neuen zu finden, gestaltete sich schwierig. Sie rief alle möglichen Hausärzte an. Von Arztwahl konnte keine Rede sein. So gut wie alle sagten, Hörsingen sei zu weit zum Fahren - schon so und erst recht bei einem möglichen Notfall. Mal ging es um 18, mal um 10 Kilometer. "Aber wir haben doch einen 24-Stunden-Pflegedienst, der sich kümmert", hat sie erklärt und wenig erreicht. "Auf dem Land ist man wirklich aufgeschmissen", sagt Astrid Krüger resigniert, wenn sie an diese Telefon-Tortur zurückdenkt, bei der sie häufig auch gar nicht dazu kam, die schwierige Situation zu schildern. Eine Ärztin nahm die Anfahrt dann in Kauf. Erleichterung. "Aber auch sie will in wenigen Jahren in Rente gehen", erklärt Astrid Krüger, und ihr ist jetzt schon bange. Dass es auf dem flachen Land immer weniger Hausärzte gibt, fällt der Hörsingerin bei ihren Bemühungen um eine unkonventionelle Pflege abseits von Wohnheimen auf die Füße. Sie weiß, vorerst ist das Problem nur aufgeschoben, mitnichten aufgehoben. Es sei denn, Hartmut wacht wieder auf.

Diese Hoffnung jedenfalls gibt seine Frau nicht auf. "Sie haben uns gesagt, dass es sein kann, dass er in diesem Zustand bleibt. Es kann aber auch sein, dass er zu sich kommt", berichtet sie von Experten-Meinungen, die sie gesagt bekam. Bis dahin soll er so natürlich wie möglich leben, hat sie sich vorgenommen. Nun plant sie sogar den ersten Urlaub seit er so schwer krank geworden ist. Für fünf Tage soll es in ein Hotel mit Park und Pflegeangebot nach Bad Bevensen in der Lüneburger Heide gehen. Wieder erhält sie großen Zuspruch von Ärzten und Pflegern und fühlt sich bestärkt, diesen Weg auch weiterhin so zu gehen.

Während beim Familiengaudi der Punktestand ausgewertet wird, fragt sie sich an diesem Sonntagmorgen, wann Jörg Falke mit Hartmut nun endlich auftaucht. Eine Nachfrage daheim und sie weiß, dass das Anziehen nach dem Ausschlafen diesmal einfach länger gedauert hat. "Wo bleibt denn Hartmut?", fragen die Verwandten auch schon, und für einen Außenstehenden klingt diese Frage so, als wäre alles beim Alten. Als würde der Hartmut von früher plötzlich in der Tür stehen und fragen, warum sie ohne ihn begonnen hätten. Aber so ist es nicht, und alle wissen das.

"Hartmut, stell Dir vor, ich habe den Familienpokal gewonnen."

Noch eine halbe Stunde wird es dauern, bis sie da sind, antwortet Astrid Krüger, die gerade mit null Punkten das Murmel-Spiel versiebt hat. Sie erntet einige Lacher. Die Sonne scheint. Dann wertet der Vorjahressieger die Ergebnisse der 16 Teilnehmer an diesem Spielevormittag aus. Für jeden gibt es noch ein Eis.

"Endlich, da ist Hartmut", sagt Astrids Schwester, die ihn schließlich mit Pfleger Jörg als erste vor dem Haus erspäht hat. Astrid begrüßt ihren Hartmut. Dann kommt seine Mutter dazu, fasst ihn am Arm und erzählt ihm sofort die Neuigkeiten: "Hartmut, stell Dir vor, ich habe den Familienpokal gewonnen." Sie sagt das ruhig, aber auch erfreut. Sie kann das Erlebnis mit ihrem Sohn teilen. Mit einem, der selbst immer viel zu sagen hatte, und von dem niemand genau weiß, was er ihr in diesem Moment vielleicht gern geantwortet hätte.