Theater Geschichten der Flucht

Geschichten der Flucht werden derzeit in Wolmirstedt für ein Theaterstück aufbereitet. Erzählt wird es von denen, die es erlebt haben.

Von Gudrun Billowie 19.03.2019, 00:01

Wolmirstedt l Haytham Alkardi erzählt: „Da war dieser Mann mit dem Baum.“ Dem war er auf seiner Flucht aus Syrien begegnet und der Mann habe immer einen großen Stamm mit sich getragen. Der habe ihm offenbar Sicherheit gegeben, denn Angst war auf der Flucht gegenwärtig. Aber es gab auch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. „Unsere Gruppe bestand aus etwa 15 Personen“, erzählt Haytham Alkardi, „und der Mann mit dem Baum hat sich uns angeschlossen.“ Ein Glücksfall. An der Grenze von Griechenland nach Mazedonien seien bewaffnete Kräfte gekommen, mit Motorrädern auf die Gruppe zugesteuert. „Als sie uns und den Mann mit dem Baum gesehen haben, sind sie lieber wieder gefahren.“ Heute kann er darüber lachen.

Solche Geschichten sind es, die in das Theaterstück einfließen sollen. Auch die Eindrücke, an die sich Taif Haji-Esmael erinnert. Das Mädchen mit den wilden Locken war mit ihrer Mutter und jüngeren Geschwistern unterwegs. „Im Zug ist niemand für Frauen mit kleinen Kindern aufgestanden.“ Sie erzählt aber auch von den Hilfsorganisationen, die ihnen die Flucht erleichtert haben, von den Ärzten ohne Grenzen, ohne die Viele nicht angekommen wären.

Haytham, Taif und die anderen gehören zum Wolmirstedter Integrationsbündnis. Sie besuchen seit ihrer Ankunft in Wolmirstedt Veranstaltungen wie das Quasselcafé, zu dem jeden Donnerstagabend ins Bürgerhaus eingeladen wird. Das steht Menschen aus der Region und aus anderen Kulturkreisen offen, dient als Kontaktplattform. Für das Engagement wurde das Integrationsbündnis 2016 ausgezeichnet, errang beim Wettbewerb „Kommune bewegt Welt“ einen dritten Preis. Von diesem Preisgeld wird nun unter anderem das Theaterprojekt finanziert.

Kopf der Gruppe ist Julian Mandernach, der in Hildesheim szenische Künste studiert. „Ende April soll die Rohfassung des Stücks vorliegen“, lautet sein Plan, „im Juni wollen wir es aufführen.“

Das Besondere an diesem Theaterstück ist, dass es nicht nach einem vorgefertigten Text einstudiert wird, sondern komplett aus der Gruppe heraus entsteht. Deshalb muss die Gruppe viele Entscheidungen treffen, beispielsweise, ob es eine Komödie oder ein Horrorstück werden soll, ob es einen Hauptdarsteller gibt oder mehrere Geschichten verknüpft werden, an welchem roten Faden sich die Geschichte entlanghangeln soll, in welcher Atmosphäre erzählt wird, wie abstrakt die selbst erlebten Geschichten dargestellt werden.

Wobei Begriffe wie abstrakt oder Atmosphäre immer erst einmal klargestellt werden müssen. Bei der Freitagsprobe bleiben das jedoch die einzigen Worte, die erst einmal fremd sind. Den Jugendlichen, die aus Syrien gekommen sind, ist die deutsche Sprache geläufig, sie gehen hier längst zur Schule oder absolvieren eine Ausbildung.

Julian Mandernach ist es wichtig, dass alle die Bedeutung des Wortes „abstrakt“ kennen. „Es geht nicht darum, die Geschichten Eins zu eins abzubilden“, erklärt er, „es geht darum, Themen zu finden, die alle betreffen.“ Diese Themen haben sich im Laufe der Probe klar herauskristallisiert: Angst, Familie, Freunde und Zugehörigkeit. Die Geschichte von dem Mann mit dem Baum wird wohl auf jeden Fall einen Platz finden. „Ich möchte, dass das Stück ein gutes Ende bekommt“, sagt Hassan Haji-Esmael.

Dann spielen sie, wie sie sich vor Soldaten versteckt haben, drei mimen die Soldaten, die anderen die Flüchtlinge, die im Schutz der Bäume entkommen. Auch das hat Haytham Alkardi erlebt. Im Probenraum des Bürgerhauses finden die Akteure schnell in ihre Rollen hinein, die Szene wirkt beklemmend, obwohl sie spontan umgesetzt, von keinem Text kommentiert wird und nicht alle Akteure die Flucht selbst erlebt haben.

Anna Keller ist hier geboren und durch Haytham Alkardi in die Gruppe gekommen. „Ich wollte gern wieder Improvisationstheater machen“, sagt die 24-jährige Psychologiestudentin und zwirbelt ihre langen blonden Haare zu einem Knoten, „ich wurde mit offenen Armen empfangen und werde dabei bleiben.“ Bis April können noch neue Mitglieder dazustoßen. „Dann werden die Rollen verteilt“, sagt Julian Mandernach. Immer freitags um 18 Uhr wird im Festsaal des Bürgerhauses geprobt.

Christine Bauer ist die Vorsitzende des Wolmirstedter Integrationsbündnisses. Sie möchte noch viel mehr Leute ins Boot holen. Um das Netzwerk zu erweitern, weitere Kontakte zu knüpfen, wird bald eine Bundesfreiwilligenstelle besetzt. Zwei solcher Stellen hat das Integrationsbündnis beantragt.

Die Unterstützung ist auch nötig, um die vielen Vorhaben zu begleiten. Demnächst stehen ein Besuch der Leipziger Buchmesse an, ein Frauencafé in der Elbeuer Wassermühle, eine Familiensportaktion, ein Kinderfilmabend, ein Frauenpicknick, ein Erste-Hilfe-Kurs und ein Männerabend. Wer mitmachen möchte, findet das Integrationsbündnis jeden Donnerstag im Quasselcafé im Bürgerhaus oder bei Facebook.