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Zeitzeugin Wenn der Schutzengel verschwindet

Gisela Miesch ist eine der Zeitzeugen, die vom bei Farsleben gestrandeten KZ-Zug berichten können. Eine Begegnung hat sie nie vergessen.

Von Juliane Just 15.01.2019, 00:01

Farsleben/Stade l Als am 12. April 1945 ein Zug in Farsleben hielt, stand die Welt kurz still. Darin saßen 2500 Juden, die einen Tag in Angst ausharrten, bis sie von den Amerikanern befreit wurden. Die Farsleberin Gisela Misch konnte den Zug aus ihrem Wohnhaus sehen und half mit. Dabei lernte sie einen Mann kennen, der ihr Zeit ihres Lebens nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte. Und sie erhielt ein kleines Geschenk, einen Engel, der sie über Jahrzehnte begleitete.

Ihre Geschichte erzählte die heute 92-Jährige zwei Mitgliedern des Wolmirstedter Vereins „Gestrandeter Zug“. Anette Pilz, ihrerseits Museumsleiterin in Wolmirstedt, und Karin Petersen, Lehrerin am Wolmirstedter Gymnasium, besuchten die Zeitzeugin in ihrer heutigen Heimat Stade (Niedersachsen) und ließen sie erzählen, was vor über 70 Jahren geschah – und sie erinnert sich, als wären die Schreckenstage erst gestern gewesen.

Als der KZ-Zug, der vom Konzentrationslager Bergen-Belsen nach Theresienstadt unterwegs war, am Ende des Gartens in Farsleben hielt, lebte Gisela Miesch mit ihren Eltern und 13 Menschen unter einem Dach. Es waren Flüchtlinge, die bei ihnen einquartiert waren. Der Zug – Miesch spricht von „Viehwaggons“ – fiel auf, sie ging nachsehen. Darin hockten ausgemergelte Menschen, die nach Essen bettelten. Doch die bewaffnete Patrouille schreckte die 19-Jährige ab.

Erst später erfuhren sie, wer in dem Zug ausharrte. Am 13. April verschwand die NS-Patrouille, die amerikanischen Truppen befreiten die Menschen im Zug. Die Geretteten wurden im Ort verteilt. Auch Gisela Miesch kümmerte sich um die Juden, half in einer Küche.

Sie stand allein am Kochtopf, als sie ein junger Mann ansprach. Der Grieche Nissim Mizrachi, von ihr bis heute „Mimi“ genannt, hatte seinen Vater beim Transport verloren. Dieser war in Farsleben an Typhus gestorben. Seine Mutter sollte er kurze Zeit später in Hillersleben verlieren. Er sprach Deutsch, Englisch und Französisch und hatte in Griechenland mehrere Semester Medizin studiert. Gisela Miesch freundete sich mit dem jungen Griechen an, „obwohl man sich fremd war“, wie die Zeitzeugin beschreibt.

Nach ein paar Tagen forderte Mimi sie auf, ihre Koffer zu packen und mit in den Westen zu kommen. Doch die Farsleberin verneinte: „Ich habe zwei Brüder im Krieg verloren, ich konnte meine Eltern nicht mit Haus und Hof allein lassen.“ Zum Abschied schenkte Mimi ihr seinen Talisman, einen Engel aus hartem Wachs und ein Foto von sich, das in seiner Heimatstadt Athen aufgenommen wurde. Auf der Rückseite steht geschrieben: „Immer in deinem Herzen“.

Es sind diese beiden Dinge, die Gisela Miesch all die Jahre aufgehoben hat. Jedes Jahr hing der kleine Engel am Weihnachtsbaum. Jedes Jahr erinnerte das abgegriffene Wachs sie an die Tage im April 1945. Jedes Jahr die Ungewissheit, wie Mimi sein Leben verbracht hat.

Ihre Wege führten die beiden nie wieder zusammen. Sie habe nie nachgeforscht, nie geschrieben – aber ihn auch nicht vergessen. Und irgendwann, vor einigen Jahren, ist der Schutzengel von ihr gegangen. Als sie ins Altersheim umzog, ging er verloren und mit ihm das Bild. Ob der Engel ging, weil auch Mimi nicht mehr auf der Welt ist, weiß die gebürtige Farsleberin nicht.

Wenn die Zeitzeugin heute über Mimi spricht, ist ihr Gesicht schmerzverzerrt. Sie erinnert sich an jedes Detail, weiß Uhrzeiten und Adressen von damals. Die Erinnerungen haben sich eingebrannt in das Gedächtnis der damals 19-Jährigen. „Die Geschichte lässt mich nicht mehr los. Ich schleppe sie mein ganzes Leben mit mir herum“, sagt sie.

Trotzdem musste das Leben weitergehen. Gisela Miesch heiratete einen Bauingenieur, bekam eine Tochter. Im Jahr 1996 zogen sie und ihr Mann nach Stade, zu ihrer Tochter und deren Familie. Der Ort wechselte, die Erinnerungen aber blieben.

Andere haben von den KZ-Zügen nichts wissen wollen, zu grausam waren die Erinnerungen der Zeitzeugen. Mehrmals hat Gisela Miesch ihre Geschichte für die Nachwelt erzählt, nun auch für den Verein „Gestrandeter Zug“ aus ihrer Heimat. Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, an die Geschehnisse in Farsleben zu erinnern. Die Tonaufnahmen und Bilder der Zeitzeugin sollen Teil einer Ausstellung werden, die im Zuge des 75. Jahrestages der Befreiung im kommenden Jahr erstellt werden soll. Dort wird Menschen wie Gisela Miesch eine Stimme gegeben – damit sie nicht vergessen werden.