Wiederkehr der Reichspogromnacht jährt sich zum 75. Mal / Gedenkveranstaltung in Zerbst Die Nächte der brennenden Synagogen
Erinnern, Gedenken und Versöhnen - am Wochenende wird in ganz Deutschland dem 75. Jahrestag der Wiederkehr des Pogroms am 9./10. November 1938 gedacht. Auch in Zerbst.
Zerbst l Leben und Alltag jüdischer Gemeinden haben die christlichen Bürger durch die Jahrhunderte mit Neugier beobachtet, oft interessiert versucht, einen Zugang zu dieser für sie mystisch verschlossenen Welt zu finden. Ihr Unwissen, gepaart mit Angst vor der Andersartigkeit hat nicht selten Ablehnung, Hass, Verfolgung, Vertreibung und Tod hervorgerufen.
Entwürdigende Darstellungen der Juden finden sich auf der Nordseite der Zerbster Nikolaikirche in einem Spottbild, der so genannten Judensau aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Leben und Alltag ist ohne die Religion und ihre rituellen Erfordernisse nicht denkbar.
Prominente Juden aus Anhalt
Seit dem Mittelalter standen die Juden mit ihrem Leben und Besitz unter dem Schutz des Kaisers und mussten sich diesen mit so genannten Schutzbriefen erkaufen. Juden leben seit dem Mittelalter als Kaufleute, (Pferde-)Händler, Unternehmer in anhaltischen Städten und Dörfern. Bedeutende jüdische Künstler, Wissenschaftler und Persönlichkeiten aus Anhalt haben unsere Kultur und Gesellschaft durch die Jahrhunderte geprägt: Moses Mendelssohn (1729-1786) - Protagonist jüdischer Emanzipation; 1806 Gründung der ersten deutsch-jüdischen Zeitung Sulamith durch David Fränkel und Joseph Wolf. Mit dem Code Napoléon Anfang des 19. Jahrhunderts erhalten die Juden die bürgerliche Gleichstellung und mit der Revolution von 1848 auch das volle Bürgerrecht. Bedeutende Anhalter waren auch Chajim Heymann Steinthal (1823-1899) - herausragender Philologe und Philosoph; Hermann Cohen (1842-1918) - Philosoph und Mitbegründer der Marburger Schule; der Historiker Isaak Markus Jost, der Mathematiker Ephraim Salamon Unger; der Zahnarzt Georg Michelsohn, der unter dem Pseudonym Eli Elkana Sonette publiziert, und schon 1933 vor dem Rassenwahn der Nazis gewarnt hat, der Heimatdichter Leo Löwenthal und nicht zuletzt der Komponist Kurt Weill.
Auch Jenny Hirsch, Vorreiterin der organisierten Frauenbewegung, war Jüdin. Sie wird 1829 in Zerbst geboren und besucht bis zu ihrem 15. Lebensjahr die Herzogliche Töchterschule. 1856 eröffnet sie in Zerbst eine konfessionsungebundene Elementarschule für Mädchen und Jungen, ist Gründungsmitglied des Lette-Vereins, der sich die Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts zum Ziel gesetzt hat. 1860 siedelt sie nach Berlin über, schreibt für die Berliner Frauenzeitschrift "der Bazar" und verfasst zahlreiche Aufsätze und Erzählungen. Ihr Roman "Frauenrache" spielt im biedermeierlichen Zerbst um 1830.
Die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 bedeutet das Ende der jüdischen Gemeinden. Am 9. und 10. November 1938 brennen die Synagogen in Anhalt. Die Zerbster Synagoge wird verwüstet, aufgrund der Nähe zu den benachbarten Häusern aber nicht in Brand gesteckt. Erst der Bombenangriff vom 16. April 1945 zerstört das Gebäude komplett.
Eine Gedenktafel am Haus Brüderstrasse/Ecke Wolfsbrücke und die "Stolpersteine" erinnern heute im gesamten Stadtgebiet an die jüdischen Bürger. Aber dennoch gab es Zivilcourage und einige mutige Zerbster, die ihre jüdischen Nachbarn vor dem Naziterror schützten. Die Familien Wachtel und Nussbaum emigrierten nach Amerika, Rechtsanwalt Dr. Schiff ging mit seiner Familie nach Palästina.
Tiefste Krise
Die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag hat unsere Aufgabe und Verantwortung treffend formuliert: "Auschwitz zeigt, wozu Menschen im Umgang mit Menschen unter bestimmten politischen Voraussetzungen fähig sind. Holocaust ist die bisher tiefste Krise unserer Zivilisation, Kultur, Politik und Religion. Ob wir etwas von der Bedeutung dieses unverwechselbaren Geschehens erfasst haben, zeigt sich daran, wie wir mit unseren politischen Aufgaben umgehen, ob wir die Ehre des politischen Gegners nicht verletzen, ob wir das Recht der anderen, anders zu sein, achten. Dies ist nicht zuletzt eine Bedingung für die eigene Zukunft. Nur was wir anderen einzuräumen bereit sind, können wir für uns erhoffen."
Wir gedenken der Opfer der faschistischen Diktatur.