Zerbster Mühlenbrücke 60 schreibt dank Familie Jerchel viel Geschichte(n) fort Neuberin und Archeopteryx - oder von der Leidenschaft nicht nur für besonderes Haus
Heute vor 315 Jahren wurde Friederike Caroline Neuber geboren, die, bekannt als Neuberin, das deutsche Theater reformierte. Bevor sie ihre Truppe auflöste, machte sie in Zerbst Station. Die Schauspieler wohnten in der Mühlenbrücke 60. Das 345 Jahre alte Haus hat eine spannende Geschichte - und Gegenwart.
Zerbst l Bei Torsten Jerchel war es Werner Helmecke. Der ehemalige Bodendenkmalpfleger wohnte im selben Haus und hat beim 1960 geborenen Zerbster den "Hang zur Historie" ausgelöst. "Er hat mich überall hin mitgenommen, zu Ausgrabungen, ins Museum ...", erzählt Torsten Jerchel von einer spürbar entfachten, bis heute lebendigen, ansteckenden Leidenschaft.
Seit 1998 gilt diese Leidenschaft in ganz besonderer Weise der Mühlenbrücke 60. Das 1667 - übrigens das Jahr, in dem auch das Jeverland in Anhalt-Zerbster Herrschaft kommt - vermutlich aus einer vormaligen Mühle deutlich umgebaute Haus ist eines der ältesten erhaltenen in Zerbst. Es hat "gesellschaftliche Geschichte" geschrieben. Und Jerchels, die es 1998 erwarben, schreiben diese Geschichte mit einem großen Engagement für den Erhalt und die Sanierung des Denkmalobjektes weiter.
"Im Blickkontakt des Sultans Ben Achmet"
Der aus Greiz stammende Schönfärber Andreas Klodz erwirbt sein Wohn- und Arbeitshaus - alte Pläne zeigen noch genau die durch die Diele gehende Längsaufteilung - in solitärer Lage in der 1299 als Molenbrucke erwähnten Straße. Bevor er das tun kann, muss der Zugezogene sich zunächst zehn Jahre als Handwerker in der Stadt bewähren. Klodz heiratet eine Advokatentochter. Wohl auch deshalb erhält das ohnehin stattliche Bürgerhaus ein besonders repräsentatives Eingangsportal. Das Renaissancenischenportal in Holzbauweise benennt das Jahr 1667 und stellt unter anderem auch eine Justizia dar - wohl die Referenz an den Schwiegervater. "Das Portal weist zu Zeiten des Hochbarocks noch alle Renaissancemerkmale auf. Das spricht für die Provinz Zerbst. Aber es war ein Meister", erklärt Torsten Jerchel. Allerdings ein unbekannter.
Zu DDR-Zeiten sind nur drei solcher Portale nachgewiesen, alle auf der Denkmalliste stehend. Das dieses so gut erhalten ist, hat auch mit seiner Lage nach Osten zu tun, die es vor schweren Wettereinflüssen verschont. Einen Blick auf den opulent gestalteten Eingang der heutigen Mühlenbrücke 60 dürfte auch Sultan Ben Achmed geworfen haben. Er kaufte 1733 nebenan beim renommierten Posamentierer Langhann persönlich ein.
Lange ist es das "Haus auf der Insel". Neben der Nuthe, an der es heute noch liegt, führt bis 1907 auch linksseitig - am Mühlrad - ein Wasserarm vorbei. Zudem ist hier einer der tiefsten Punkte der Stadt, früher noch bis 1,40 Meter tiefer als jetzt. Immer wieder machen den Mühlenbrücken-Anwohnern deshalb auch schwere Hochwasser zu schaffen. "Über eine Elle hoch", so ist es überliefert, stand etwa im Januar 1841 das Wasser im Haus. "Aber es gibt verschiedene Ellen", erzählt Torsten Jerchel von den Recherchen. Die in Anhalt gebräuchliche war die preußische und so stehen an der Hochwassermarke an der Hauswand jetzt 66,69 cm.
"Die Lage hat das Haus 1945 auch gerettet", berichtet der Zerbster weiter. Von den Bombardements getroffen, brannten zwei Gefarre. Sie konnten herausgestoßen und der Brand am Haus gelöscht werden. Das ist im Übrigen lange verputzt. Erst 1954 wird das Fachwerk wieder freigelegt.
Bis in die 80er Jahre ist im vielen Zerbstern noch bekannten "Haus Harmony" eine "Gerberei und Annahme roher Felle" untergebracht. Bevor es Jerchels erwerben, steht es zwei Jahre leer.
"Wir wollen es erhalten und verbessern."
Stichwort "gesellschaftliche Geschichte". Eine weitere Tafel an der Hauswand hängt seit 2002. Angebracht vom Zerbster Heimatverein, verweist sie auf Friederike Caroline Neuber. Die Theaterprinzipalin und -reformerin, Schauspielerin und Autorin wurde heute vor 315 Jahren geboren. Am 13. Juli 1750 kommt sie mit ihrer 26 Leute umfassenden Truppe nach Zerbst. Zusammen mit ihrem Mann wohnt die Neuberin in der Brüderstraße 24.
Ihre Schauspieler finden Quartier in der Mühlenbrücke bei Strumpfwebermeister Oertel. Hier wird auch geprobt, für die Aufführungen im Neuen Haus und im Schloss, bevor hohe Schulden 1751 zur endgültigen Auflösung des Unternehmens und zur Abreise aus Zerbst führen.
Wo die Neuber\'sche Truppe im Haus geprobt haben könnte, wird zunächst nicht deutlich. "Es war alles sehr verschachtelt", so Torsten Jerchel. Nach Herausnahme mehrerer Wände tut sich dann im oberen Hausbereich aber ein Stubensaal auf, noch dazu einer mit einer frühbarocken bemalten Holzbalkendecke.
"Mit der Neuberin haben wir uns erst stärker beschäftigt, nachdem wir das Haus erworben hatten", berichtet Torsten Jerchel. Aber wie alles andere, was das Denkmalobjekt betrifft, geschieht das mit viel Akribie, fachmännischem Rat, möglichst ökologischer Umsetzung und Liebe zum Detail. "Wir wollen es so erhalten, wie es über die Jahrhunderte zuvor war und verbessern." Was Jerchels da schon erreicht haben, machen eindrucksvoll auch Fotos, Chroniken und ein Schrank voller Haus-Funde deutlich. Aufwändig ist das. Und fertig sind sie noch lange nicht.
"Man muss sich für so ein Objekt begeistern."
"Man wächst mit so einem Haus und man muss sich dafür begeistern", sagt Dr. Brunhilde Jerchel, die seit 2001 in der Mühlenbrücke 60 wohnt. Für das bisher Erreichte gilt Jerchels besonderer Dank Karl-Heinz Sandmann mit seiner Familie und allen bisher tätigen Handwerkern.
Haus, Restaurierung, Neuberin - es gibt viele Verknüpfungen und Geschichten, viele zufällige, andere bewusste.
Zum Beispiel die, das Torsten Jerchel nach zehnjähriger Wanderschaft seinen Orthopädiesschuhtechnikermeister bewusst im sächsischen Wermsdorf macht. Dort lernt er seine Frau Gundel kennen - und dort hat die Neuberin auf der Hubertusburg für den Sohn August des Starken gespielt.
Aus Kamenz kommen die Fenster der heutigen Mühlenbrücke 60. Kamenz ist Lessing-Stadt. Ohne die Neuberin, die sein Erstlingswerk aufführte, wäre Lessing vermutlich nicht geworden, was er wurde.
"Wir sind inzwischen richtige Neuberin-Fans geworden", beschreibt es Torsten Jerchel. So war die Familie in Reichenbach, in Kamenz, auch in Laubegast und Leuben, wo die Prinzipalin verstarb bzw. beerdigt ist. "Beim Wandern im Elbsandsteingebirge" lernt Familie Jerchel "zufällig einen netten Herrn aus Laubegast kennen, der sich mit ihr beschäftigt hat". Es folgen eine Einladung, ein Besuch - und inzwischen wachsen Leubener Pflanzen auch im Jerchel\'schen Garten.
Und dann hat das Haus auch noch mit dem Archaeopteryx zu tun. Der relativ dunkle Hausflur sollte einen hellen Boden bekommen. "Aber es sollte ein Naturstein sein", erzählt Torsten Jerchel, wie sie schließlich auf Steine aus dem mittelfränkischen Solnhofen kamen. 1987 wird hier die Urvogel-Versteinerung entdeckt. Jerchels können sich nicht nur ihre Fußbodenplatten selber aussuchen, auch einige Fossilien gehören jetzt mit in die Sammlung zur Hausentwicklung. Auch dort ist es eine dieser "Begegnungen und Gespräche, die es über die Kultur immer wieder gibt", sagt Torsten Jerchel. Solnhofen hat nämlich auch dem Hackstockmeister Alois Senefelder (1771-1834) ein Denkmal gesetzt. Er erfand die Lithografie, als er die Möglichkeit entdeckte, Texte in den geglätteten Kalkschiefer zu äzten. Eigene Texte, denn Senefelder wollte ursprünglich Schauspieler werden und Theaterautor ...