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Schule Klare Kante gegen Gewalt

Mit den Geschichten von Tätern und Opfern nach Gewalttaten haben sich Neuntklässler der Sekundarschule "Ciervisti" in Zerbst beschäftigt.

Von Thomas Kirchner 28.10.2019, 00:01

Zerbst l Pöbeleien, Beleidigungen und Gewalt gegen Politiker, gegen Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste, Mobbing, Beleidigungen und Gewalt in Schulen, häusliche Gewalt – es scheint, als hätte sich die Gesellschaft mit der zunehmenden Verrohung und der stetig sinkenden Hemmschwelle im Alltag arrangiert.

Die Ganztagsschule „Ciervisti“ in der Fuhrstraße darf sich seit 2012 „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ nennen, und das soll auch so bleiben. Aus diesem Grund fand am Freitag ein ganz besonders Projekt statt. Fünf Menschen, sowohl Täter als auch Opfer, berichteten den rund 100 Neuntklässlern in der Aula von Gewalttaten.  Sie taten das entweder freiwillig, oder es gehörte zu von Gerichten verhängten Auflagen. „Wir haben das Thema gewählt, weil es natürlich auch an unserer Schule präsent ist“, sagt Anja Wagner, Lehrerin in Ciervisti. Den Schülern müsse bewusst werden, das selbst Mimik und Gestik zu verbaler und körperlicher Gewalt führen können.

 „Durch die Reaktionen der Jugendlichen während der Veranstaltung soll herausgefunden werden, wie die Einstellung der Schüler zum Thema Gewalt ist“, erläutert Anja Wagner. Damit solle die Sensibilität der Schüler im Umgang miteinander, wie Toleranz und gegenseitige Akzeptanz, geschärft werden. „Gewalt im Alltag ist leider schon zur Normalität geworden“, so die Pädagogin.

Ümit veranstaltet RnB und Hiphop Partys, deutschlandweit. Sein Freund Yasar wird im September 2007 vor einer Veranstaltung von Neonazis verfolgt, öffentlich gedemütigt, gequält und zum Krüppel geschlagen, keiner der zahlreichen Augenzeugen schreitet ein. Ümit sagt nach seinen Erfahrungen: „Bevor man mich schlägt, schlage ich zu. Gewalt ist überall, ist doch normal ...“

Kathrin sitzt abends bei geöffnetem Fenster mit ihrer Freundin am Küchentisch, als sie von draußen Hilfeschreie hört. Sie beobachtet, wie zwei Männer eine Frau im Würgegriff haben und sexuell bedrängen. Kathrin handelt ohne lange nachzudenken. Sie greift eine ungeöffnete Weinflasche, rennt auf die Straße und schreit, sie sollen die Frau in Ruhe lassen. Die Männer entreißen ihr die Flache und verletzen sie damit. Kathrin sagt nach ihrem Erlebnis: „Mischt euch nicht ein. Dreht Euch um und geht weg…“

Harald ist Lehrer aus Leidenschaft. Dass er zunehmend unter dem Desinteresse und den kleinen Gewalttätigkeiten der Schüler leidet, merkt niemand. Von Schülern und Kollegen nicht ernst genommen, zutiefst enttäuscht und verbittert, begibt er sich immer stärker in eine Isolation. Als ein Schüler hinter seinen Rücken im Unterricht eine letzte von vielen unverschämten Bemerkungen macht, verliert er die Kontrolle und schlägt zu. Harald sagt, nachdem er von seiner Tat berichtet hat: „Es tut mir heute noch wahnsinnig leid …“

Nicole verbündet sich in der Schule mit anderen Mädchen gegen Annika, die sich auf Grund ihrer häuslichen Verhältnisse sehr vernachlässigt, was sich äußerlich durch ihre Kleidung und Gewichtszunahme bemerkbar macht. Die Attacken von den Freundinnen: Drohbriefe, Telefonterror, Androhung körperlicher Gewalt, Cybermobbing. Annika weiß keinen Ausweg mehr. Sie schreibt einen Abschiedsbrief, in dem sie Nicole und ihren Freundinnen die Schuld an ihrem Freitod gibt und springt aus dem Fenster. Nicole sagt, während sie die Geschehnisse schildert: „Was kann ich dafür. Hab ich gesagt sie soll springen ...“

Klaus wächst bei seiner Mutter auf, sein Vater ist verstorben. Als 12-Jähriger gerät er in eine rechtsradikale Clique. 2006 wird der Laden seiner Mutter von einem asiatischen Geschäftsmann übernommen. „Der hat meine Mutter entlassen. Also ich mit drei Kameraden in den Laden und trete so lange auf den ein, bis er sich nicht mehr bewegt und ich schlage den Kopf der anderen Tante auf die Kasse.“ Und während er seine Tat schildert, immer wieder rechte Parolen. Klaus sagt: „Ich würde heute wieder so handeln. Wer braucht den Scheiß. Das war mal ein deutscher Laden...“

Die Neuntklässler werden während sie zuhören immer aufgewühlter. Sie sind traurig, entrüstet, wütend, können kaum noch an sich halten und rufen noch während die Protagonisten ihre Erlebnisse und Taten erzählen, immer wieder wütend dazwischen – besonders bei den Schilderungen von Nicole und Klaus. Der Moderator hat Mühe, die Schüler ruhig zu halten. Als die Fünf mit ihren Schilderungen fertig sind, haben die Schüler Gelegenheit, mit den Opfern und Tätern zu diskutieren, sie nach ihren Motiven zu befragen, sie zur Rede zu stellen. Den schwersten Stand hat dabei wohl Klaus. Er wird förmlich umringt von den Jugendlichen. Seine rechten und ausländerfeindlichen Sprüche haben die Jugendlichen regelrecht fassungslos und wütend gemacht. Auch mit Ümet diskutieren die Jugendlichen angeregt. Die Geschichten von Helferin Kathrin und Lehrer Harald haben die Schüler wohl weniger bewegt, denn sie bleiben nahezu unbehelligt. Hier besteht offensichtlich kein großer Diskussionsbedarf.

Die Neuntklässler zeigen ganz klare Kante gegen Mobbing, Pöbeleien und Gewalt. Und das bringen sie auch ganz unmissverständlich zu Ausdruck – auch und vor allem gegenüber den Tätern.

Ganz am Ende wurde die Situation aufgelöst. Täter und Opfer werden von Schauspielern dargestellt. Das sollten die Jugendlichen mit Bedacht erst ganz am Schluss erfahren. Die Geschichten dahinter haben sich jedoch genauso abgespielt.