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In der Calbenser Ritterstraße ging es eins hochherrschaftlich-kultiviert zu / Wohnort wohlhabender Bauherren Margaretha überlebte wie durch ein Wunder

Von Dieter Horst Steinmetz 18.09.2014, 01:14

"Geschichtsträchtiger Boden in der Ritterstraße" heißt eine weitere Folge in der Calbenser Straßenserie.

Calbe l Auf und an der Ritterstraße in Calbe betreten wir geschichtsträchtigen Boden, der nach Auskunft der ersten Reichsurkunden mindestens schon zur Zeit Ottos des Großen hochherrschaftlich kultiviert wurde. In der Gegend der Ritterstraße 1 fand man 2011 bei archäologischen Ausgrabungen Zeugnisse aus dem Innern eines Gutshofes. In Kaiserurkunden des 10. Jahrhunderts wird auch verraten, dass es sich dabei um einen Königshof, also um einen königlichen Burgbereich handelte, der "Calvo" beziehungsweise "Calve" hieß. Otto I. verschenkte in kluger Voraussicht seine "Curtis regia" an das Moritzstift Magdeburg, und als dieses kurze Zeit später zum Erzstift an der Grenze zum Territorium der Slawen erhoben wurde, gehörte die Burg den Magdeburger Erzbischöfen als beliebter Zweitsitz.

Schlossfestung

Im 14. Jahrhundert, als sich um ihre befestigte Anlage herum die blühende Handelsstadt Calbe entwickelt hatte, übergaben die Erzbischöfe als Landesherren die Reste ihres Hofes an die Kommune und ließen am Nordostrand der Stadt eine repräsentative Schlossfestung erbauen. Nur den Kern ihres alten Burg-Areals funktionierten sie zu einem Rittersitz mit einem dazugehörigen Rittergut um. Als die Ritterheere in der Militärrevolution des Spätmittelalters durch Söldnerheere ersetzt wurden, verschafften die Landesherren vielen der ritterlichen Vasallen in den neu geschaffenen Rittergütern eine solide wirtschaftliche Basis mit einigen Vorrechten, damit sie nicht zu umherstreunenden gefährlichen Räubern und Terroristen wurden. So ist das Kuriosum entstanden, dass im Unterschied zu den meisten anderen Rittergütern der Rittersitz in Calbe inmitten einer florierenden Stadt stand, was übrigens wiederholt zu einem Kompetenz-Gerangel führte. Da die Ritter keine Titel wie ihre höher gestellten Adels-"Kollegen" aufzuweisen hatten, nannte man sie einfach "Herr", weshalb die Straße ursprünglich "Herrengasse" oder "Edelgasse" hieß. Die ersten nachweisbaren Besitzer des Rittergutes Calbe waren die Herren von Hake, die den Kapellen-Süd-Anbau an der St.-Stephani-Kirche stifteten. Später kamen unter anderen auch die Ritter von Haugwitz aus dem Sächsischen durch Einheirat hierher. Im Dreißigjährigen Krieg wurde die in Calbe ansässige Ritter-Familie von Haugwitz fast vollständig ausgelöscht. Ein kleines Mädchen, Anna Margaretha, überlebte wie durch ein Wunder und wurde mit 18 Jahren die Ehefrau des jungen schwedischen Generals Karl Gustav Wrangel. Als das Ritterguts-Wesen unter Napoleon beseitigt wurde, kamen das Haus und der Hof in der Ritterstraße 1 an den Posthalter Friedrich Schulze, der in der 1848er Revolution ein liberaler Mitstreiter Wilhelm Loewes war. Danach richteten sich dort ein Wagenbauer und in den 1920er Jahren Gemüsekonserven-Produzenten, zum Schluss der VEB "Obst und Gemüse Magdeburg" ein. Seit 2011 existieren Gebäude und Hof des Rittergutes nicht mehr.

Kurzer Schulweg

Gleich in der Nachbarschaft, in der Ritterstraße 2 befand sich das patrizische Brauhaus des gemäßigt-lutherischen Theologen Magister Matthias Steinhausen, der von Adam Kraft (Markt 9) beim Landesherrn denunziert und daraufhin gemaßregelt worden war. Steinhausen und nach ihm einige seiner Nachkommen wie Magister Werner und Kämmerer Ernst Steinhausen lebten bis ins 17. Jahrhundert dort. Werner Steinhausen war 1668 auch im Brauhaus Nr. 6 zu Hause. Johann Christoph Nicolai, dem 1733 in Calbe eingewanderten Senior der Nicolai-Tuchfabrikanten-Dynastie in Calbe, und dessen Sohn gehörte das Haus Nr. 2 bis in die 1830er Jahre. Dann zog der innovative Tuchunternehmer Adolf Schotte dort ein. In den 1880er Jahren schließlich war in der Ritterstraße 2 eine Außenstelle der Magdeburger Zigarren-Fabrik von Gottlob August Nathusius aus dem Magdeburger Nathusius-Familienzweig anzutreffen, eines weiter entfernten Verwandten von Philipp Nathusius, dem Mann unserer Marie Scheele. Später wohnte in dem repräsentativen Haus Georg Paulinius, der 1924 als junger Rektor der Mädchen-Volksschule eingesetzt worden war.

Sein Schulweg war recht kurz, denn die Knaben-Volksschule hatte man 1856 an der Stelle der abgerissenen Gebäude und Scheunen der Ritterstraße 20 erbaut, und 1880 folgte auf der Abriss-Stelle der Nr. 19 die Fertigstellung der Mädchen-Volksschule, deren roter Backsteinbau heute verlassen emporragt. Zuvor hatte am Platz des Rolandsgartens an den "Sieben Ecken" beziehungsweise des DDR-Thälmann-Hains seit 1695 eine Latein- und spätere Bürgerschule gestanden. Nachdem die beiden neuen Volksschulgebäude, von 1945 bis 2000 als die Heinrich-Heine-Schule bekannt, 1880 fertig waren, wurde die barocke Bürgerschule abgetragen. Die Errichtung einer solch großen Volksschule war im 19. Jahrhundert notwendig geworden, weil sich die Bevölkerungszahl Calbes während des Industrie-Booms zwischen 1831 und 1890 von 4747 auf 9609 mehr als verdoppelt hatte, ein bis dahin nicht gekannter Zuwachs. Die preußischen Behörden hatten sich für den Bau dieser Schule eingesetzt, weil der Unterricht der großen Masse der städtischen Schulkinder in fünf alten Schulbauten und Schulstuben, die in einem erbarmungswürdigen Zustand waren, nicht mehr länger geduldet werden konnte.

Die Hälfte der Gebäude in der Ritterstraße waren Häuser von wohlhabenden Brauherren sowie auch zwei Freihäuser, das heißt, solche, die nicht der Kommune, sondern Adligen als Lehen der Landesherren gehörten. Eines war der Rittersitz, das andere das Gehöft Nr. 19, das 1880 der Mädchenschule weichen musste. Die vornehmeren Häuser konnte man eindeutig im unteren, nördlichen Teil der Ritterstraße finden. Das ist auch erklärlich, denn dort war die Nähe zur Haupt- oder Querstraße und zur Stadtkirche gegeben.

Bild im Salzlandmuseum

Die Häuser Nr. 3 und 4 besaßen im 17. Jahrhundert nacheinander Mitglieder der alten Ratsherrenfamilien Döring und Stock. In beiden Häusern war seit 1716 der Kämmerer und nachmalige Bürgermeister Leberecht Gottlob Hävecker, ein Sohn des berühmten pietistischen Oberpfarrers und Regional-Geschichtsschreibers, anzutreffen. Das Bildnis des Bürgermeisters Hävecker befindet sich im Salzlandmuseum. Zu den Häusern eines der reichsten und wohltätigsten Männer in Calbe, Jean Tournier, gehörte auch das Brauhaus in der Nr. 5. Gegenüber in der Nr. 18 wohnte seit den 1830er Jahren der Bürgermeister Karl Kleist, dessen Situations-Bericht aus dem Jahr 1845 wir bei der Öffnung des nördlichen Stadtkirchen-Turmknopfes im Jahr 2007 gefunden haben und der sich negativ über die Eisenbahn geäußert hatte. Im oberen Teil der Straße war mehrheitlich der "kleine" Mittelstand zu Hause. Der dort einstmals vorhanden gewesene Brunnen wurde erst Jahrzehnte nach dem Bau einer städtischen Wasserleitung stillgelegt, obwohl schon der "Umwelt-Pionier" Pfarrer Moritz Rocke in den 1860er Jahren auf die Seuchen-Gefährlichkeit des fauligen, stinkenden Brunnenwassers hingewiesen hatte.