1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Stendal
  6. >
  7. Stolpersteine: An den Holocaust erinnern

Die Volksstimme begibt sich auf die Spur von fünf Stendalern, die den NS-Rassenwahn nicht überlebt haben Stolpersteine: An den Holocaust erinnern

Von Antonius Wollmann 27.01.2015, 01:10

Heute vor 70 Jahren befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Seit 2005 gilt der 27. Januar deshalb als Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. In Stendal erinnern sechs Stolpersteine an Stendaler Juden, die den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Die Volksstimme ging auf Spurensuche.

Stendal l Am 18. Mai 2006 verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig die ersten drei Stolpersteine in der Hallstraße und der Grabenstraße. Mittlerweile erinnern sechs Steine an Stendaler, die dem Nazi-Regime zum Opfer fielen.

Dr. Julius Charig und Ilse Charig, Karlstraße 2, Grabenstraße 4

Der promovierte Jurist Dr. Julius Charig hatte es Mitte der 1920er Jahre zu deutschlandweiter Berühmtheit gebracht. In einem viel beachteten Prozess war es dem Rechtsanwalt gelungen, den berüchtigten antisemitischen Pfarrer der Nordsee-Insel Borkum, Ludwig Münchmeyer, zu Fall zu bringen. In der Folge des Rechtsstreits verlor der seinerzeit in Emden lebende Charig einen Großteil seiner Mandaten.

Über den Umweg Berlin kam Julius Charig 1929 nach Stendal. Charig wohnte mit seiner Frau Ilse in der Grabenstraße 4, seine Anwaltspraxis eröffnete er in der Karlstraße2. Die systematische Drangsalierung der deutschen Juden bekam Charig schon kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu spüren.

Seit 1933 durfte er das Gerichtsgebäude nicht mehr betreten. Ein schwerer Schlag für den überzeugten Patrioten, der sich im Jahre 1915 als nicht mal 18-Jähriger freiwillig zum Dienst im Ersten Weltkrieg gemeldet hatte. Seine Vergangenheit als Weltkriegsveteran ermöglichte es ihm jedoch, weiter als Anwalt tätig zu sein, ehe er am 24. Oktober 1938 endgültig seine Zulassung verlor. Schon zuvor hatten die immer stärker werdenden Repressalien der Nazis die Charigs veranlasst, über eine Flucht ins Ausland nachzudenken. Ihr Plan, zu Verwandten in die Vereinigten Staaten zu emigrieren, scheiterte jedoch.

Die Charigs harrten noch bis 1942 in der Grabenstraße aus, bis sie am 13. April 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert wurden. Ein letztes Lebenszeichen sendete Julius Charig am 16. April über das Rote Kreuz an eine Verwandte. Kurz berichtete er über die Situation im Ghetto. Er musste für eine deutsche Firma arbeiten, Ilse dagegen war in einer Gemeindeküche beschäftigt. Was danach passierte, liegt im Dunkeln. Julius Charig verstarb wohl noch im Warschauer Ghetto. Sein genaues Todesdatum ist unbekannt. Seine Frau Ilse wurde am 1. April 1943 in den Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka ermordet.

Auguste Cohn und Richard Cohn, Hallstraße 4

Richard Cohn stammte aus einer alteingesessenen jüdischen Stendaler Familie. Am 22. Januar 1877 hatte er in Stendal das Licht der Welt erblickt. Seine Frau kam aus der württembergischen Stadt Tauberbischofheim nach Stedal. Die Cohns betrieben in der Hallstraße 4 ein Bekleidungsgeschäft.

In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde das Geschäft schwer beschädigt. Die Schäden von 1813 Reichsmark hatte Richard Cohn selbst zu tragen. Wenig später wurden die Cohns gezwungen, ihr Haus in der Hallstraße 4 weit unter dem eigentlichen Wert zu verkaufen. Auch ihr Geschäft wurde arisiert.

Innerhalb weniger Wochen verlor die Familie fast alles, was sie besessen hatte. Doch damit hatte der Leidensweg erst begonnen. Richard Cohn wurde unter nicht bekannten Umständen ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Dort starb er am 25. Januar 1940 an einer Hirnblutung. Als einer der letzten Stendaler Juden wurde er auf dem jüdischen Friedhof an der Georgenstraße beigesetzt. Auguste Cohn blieb bis zur ihrer Deportation im April 1942 in Stendal, zuletzt in der Sammelstelle in der Grabenstraße 4. Sie verstarb im Jahre 1943 im Warschauer Ghetto. Die einzige Tochter Johanna Cohn fiel ebenfalls den Nazis zum Opfer. Auch sie wurde nach Warschau gebracht, wo sich ihre Spur verliert.

Alfred Simonsohn, Breite Straße 7

Am 30. Juni 1896 wurde Alfred Simonsohn, genannt Fredi, in Stendal geboren. Sein Vater Georg betrieb in der Breiten Straße ein Textilgeschäft. Er führte das Geschäft bis zu seinem Tod im Jahre 1934. Nachdem seine drei Geschwister die Hansestadt während der 1930er Jahre verlassen hatten, blieb Alfred als letzter Nachkomme in Stendal.

Körperlich und geistig behindert, war Alfred Simonsohn nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Aufopferungsvoll kümmerte sich die Arneburgerin Anna Voigt um ihn, und übernahm gleichzeitig die Leitung des Familienbetriebes. Vor dem Zugriff der Nazis konnte sie Simonsohn indes nicht schützen. Im April 1942 wurde Alfred Simonsohn nach Polen deportiert. Dort endete sein Leben 1942 in den Gaskammern von Treblinka.

Anlässlich der Verlegung des Stolpersteins in der Breiten Straße 7 im Jahre 2011 reiste sein Neffe Luis Simonsohn aus Santiago de Chile an. Luis Simonsohn war als Achtjähriger im Dezember 1938 mit einem der letzten Kindertransporte die Flucht nach England gelungen. Vor seiner Emigration hatte Luis seinen Onkel ein letztes Mal in Stendal besucht.

Sammelstelle, Grabenstraße 4

Am 8. Dezember 1941 wandte sich der Kreisleiter der NSDAP Fischbeck per Brief mit einer dringenden Aufforderung an den Stendaler Bürgermeister Meyer. Dieser solle dafür sorgen, die Stendaler Juden in einer Gemeinschaftsunterkunft zusammenzuziehen, da es "deutschen Volksgenossen heute nicht mehr zugemutet werden kann, mit Juden unter einem Dach zu wohnen", so der Wortlaut des Kreisleiters.

Inwieweit der Plan umgesetzt wurde, ist unklar. Bekannt ist dennoch der letzte Aufenthaltsort der in Stendal verbliebenen Juden. Als Sammelpunkt wurde das Haus in der Grabenstraße 4 ausgewählt, in dem auch Julius und Ilse Charig wohnten. Das Grundstück hatte ursprünglich dem polnischen Juden Jakob Dänemark gehört. Der Pferdehändler war bereits nach der Reichspogromnacht ins Konzentrationslager Dachau bei München deportiert worden. Sein Martyrium setzte sich in den Lagern Buchenwald und Ravensbrück fort und endete 1943 in Auschwitz.

In Stendal blieb hingegen seine Frau Mathilde mit ihrer Mutter Ida Adler zurück. Sie gehörten zu der kleinen Gruppe von etwa neun Juden, die sich am 13. April des Jahres 1942 im Pferdestall des Hauses in der Grabenstraße 4 einzufinden hatten. Streng bewacht wurden sie vom Grundstück geführt und nach Polen deportiert. Niemand von ihnen sah Stendal je wieder.