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Olga Graz kam im Dezember 1993 als Spätaussiedlerin nach Deutschland in den Kreis Zerbst Nach 21 Jahren angekommen

26.07.2014, 01:12

Olga Graz gehört zu den ersten Spätaussiedlern, die nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenfall der Sowjetunion in Zerbst eine neue Heimat fanden.

Zerbst l "Meine Vorfahren haben immer gesagt: Jeder muss irgendwann wieder dahin zurück, wo seine Wurzeln liegen." Die Wurzeln von Olga Graz liegen in Deutschland. Geboren wurde sie in Kasachstan in einem kleinen Dorf nahe der Stadt Petropawlowsk.

Als die Sowjetunion 1991 aufgelöst wurde, war sie 28, verheiratet und hatte zwei Töchter. "Von einem Tag auf den nächsten war man arm", sagt sie. So habe die kleine Familie zwei Schweine verkauft und das Geld auf ihr Sparbuch gelegt. "Und dann konnten wir uns davon gerade einen Laib Brot kaufen." Ein Jahr später begann die Familie ihres Mannes, Papiere für eine Ausreise nach Deutschland vorzubereiten - für insgesamt 48 Personen in 13 Familien. "Alle miteinander verwandt", so Olga Graz, die als Auslöser für die Entscheidung ausmacht, dass für den neuen Staat alle Kasachisch lernen sollten.

"Jeder hat für sich das Schönste mitgenommen - und bei mir waren es die Bilder."

"Wir haben in Kasachstan eigentlich immer in dem Bewusstsein gelebt, dass wir Deutsche sind", sagt die Frau. 1993 kam die Einladung für die Spätaussiedler. "Jeder von uns konnte entscheiden, ob er mit will", sagt Olga Graz und es fällt ihr sichtlich schwer, über die Erlebnisse zu sprechen. Für die heute Anfang 50-Jährige war die Auswanderung ein schwerer Schritt, musste sie doch ihre Geschwister und Eltern zurücklassen. "Wie das ist, kann man nur verstehen, wenn man das selbst gemacht hat", erklärt sie den Tränen nahe.

Was konnte in Kasachsten bleiben, was nahm man für den neuen Lebensabschnitt mit? "Man fährt ja in die Fremde und weiß nicht, was auf einen zukommt", erklärt Olga Graz ihre Gefühle beim Packen. Schließlich entschied sich die Familie dafür, dass jedes Familienmitglied einen Teller, eine Tasse und eine Untertasse sowie ein Set mit frischer Bettwäsche braucht. "Mein Mann ist Kfz-Mechaniker, er hat dann noch sein Werkzeug eingepackt, das war ihm wichtig", sagt sie und lächelt. Sie selbst habe für sich nur ein paar Fotos ihrer Verwandten eingesteckt. "Jeder hat für sich das Schönste mitgenommen - und bei mir waren es die Bilder."

Vier Tage lang waren die 13 Familien unterwegs. Zuerst mit dem Zug bis nach Moskau und von da aus mit dem Bus weiter nach Hamm (Westfalen). Von da aus ging es weiter nach Zerbst. "Die Behörden wollten uns nicht auseinanderreißen, obwohl einige von uns schon Verwandschaft in Deutschland hatten", sagt Olga Graz. Die Gemeinschaft half in der ersten Zeit weiter. "Das war unser Halt." Ein Heim für Spätaussiedler in Zerbst war die erste Station für die Familien, die am 15. Dezember 1993 ankamen.

"Das war eine ganz andere Welt mit anderen Sitten", musste Olga Graz feststellen. Am meisten hat sie sich über eine ganz besondere Tradition der Deutschen gefreut - das Weihnachtsfest. "In der Sowjetunion war ja vieles verboten, da mussten wir das heimlich feiern und hier war das dann ein Feiertag, das war ganz neu für uns."

Die ersten Kontakte mit den Zerbstern verliefen herzlich. "Mit manchen sind wir auch heute noch befreundet", sagt Olga Graz. Ihr Blick drückt die Dankbarkeit aus, die sie für die erste schwere Zeit noch immer empfindet. Für die komplette Gruppe bedeuteten die ersten Monate in Deutschland harte Arbeit, denn trotz der schon vorhandenen Deutsch-Kenntnisse mussten alle einen sechsmonatigen Deutschkurs absolvieren.

Zudem mussten sich die Familien erst an die Wegwerf-Kultur der Deutschen gewöhnen. "Wir haben vorm Heim einen Baum gesehen, darunter lagen Äpfel. Das war für uns etwas ganz Besonderes, weil in unserer Gegend in Kasachstan Äpfel nur sehr schwer zu bekommen waren." Die Äpfel wurden unter anderem zu Kuchen verarbeitet, der dann verschenkt wurde - als Zeichen der Dankbarkeit.

Nach dem Deutschkurs zerbrach die Gemeinschaft jedoch nach und nach. "Einige sind dann nach Westdeutschland zu ihren Verwandten gegangen, weil es da mehr Arbeit gab", erzählt Olga Graz. Ihre kleine Familie ist geblieben. Die Menschen seien so herzlich gewesen, dass Olga Graz ihnen nicht den Rücken kehren wollte. "Ich komme ja aus einem Dorf und Zerbst ist nicht so groß, das hat mir gefallen", sagt sie außerdem. Die Zeit im Heim hat sie immer noch gut in Erinnerung. Von dem ersten Geld, das sie damals dort sparen konnte, hat die Familie eine Schlafzimmereinrichtung gekauft. "Die haben wir noch immer", sagt Olga Graz lächelnd. Nach und nach habe die Familie sich mit Möbeln und Hausrat eingedeckt.

"Ich habe es nie betreut, dass ich nach Deutschland gegangen bin."

Als dann das Angebot einer Familie aus Mühro kam, eine Haushälfte zu beziehen, sagte sie direkt zu. Ihr Mann fand zunächst Arbeit bei einer Baufirma und konnte nach ein paar Monaten in seinen alten Beruf als Kfz-Mechaniker zurückkehren. Olga Graz, die in Kasachstan als Buchhalterin gearbeitet hatte, bekam eine Umschulung und war fortan als Pflegekraft zuerst im Krankenhaus danach in der Altenpflege tätig. Nach fünf Jahren in Deutschland bekam sie 1998 eine weitere Tochter. Im Jahr 2000 folgte eine weitere. "Wir haben in Mühro nicht nur gute Erfahrungen gemacht", sagt sie und windet sich merklich, bis sie zugibt, dass sie dort mit Beschimpfungen zu tun gehabt hätte. "Aber das war auch gut so, weil wir da gelernt haben, dass es in Deutschland nicht nur jeden Tag Brot mit Honig gibt." Sie vermutet aber, dass es Deutschen die nach Kasachstan kommen würden, wahrscheinlich nicht anders erginge.

Olga Graz ist eine sehr gläubige Frau. "Ich habe diesen Menschen vergeben. Gott will es so", sagt sie. Dabei ist für die Kasachin unwichtig, welchem Glauben ein Mensch angehört. "Wir sind alle Gottes Kinder." Inzwischen wohnt die Familie in Zerbst und ist zufrieden mit ihrem Leben. Olga Graz arbeitet als Betreuerin in der Grundschule An der Stadtmauer.

"Ich habe es nie bereut, dass ich mit nach Deutschland gegangen bin", sagt die Zerbsterin. Sie ist nur ein einziges Mal zurück nach Kasachstan gegangen - 1996 zur Beerdigung ihres Vaters. Ein schwerer Besuch, zumal das Antragsverfahren für ihre Geschwister und Eltern für die Einreise nach Deutschland schon vorbereitet war. Ihr Vater, zu dem Olga Graz ein gutes Verhältnis hatte, hat immer zu ihr gesagt, dass sie den Weg für ihn freimachen solle. "Ich musste meinen Vater dort zurücklassen", sagt Olga Graz mit Tränen in den Augen. Ihre Mutter verstarb zwei Jahre später. Ihre Geschwister aber haben den Weg nach Zerbst gefunden. Die Familie ist seit Anfang des Jahres 2000 wieder vereint. "Ich war so glücklich darüber, das kann man gar nicht beschreiben", sagt sie.

Olga Graz ist nach 21 Jahren richtig angekommen in Deutschland. "Wir haben alles, was wir brauchen, mehr kann man nicht verlangen. Der Rest liegt in Gottes Hand."