1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Bombenfunde: Das tödliche Erbe lauert überall

Sachsen-Anhalts Kampfmittelexperten finden fast 70 Jahre nach dem Krieg nahezu täglich Munition. Bombenfunde: Das tödliche Erbe lauert überall

In den vergangenen 20 Jahren sind in Sachsen-Anhalt mehr als 7000 Bomben aller Kategorien entschärft worden. Ein Ende ist nicht absehbar, obwohl die Funde weniger werden. Eine zivil genutzte Fläche so groß wie der
Altmarkkreis Salzwedel gilt weiter als belastet - vor allem in
ehemaligen Bombenzielgebieten.

Von Matthias Fricke 05.11.2013, 02:12

Magdeburg l Die beiden Zünder der vor einigen Tagen im Magdeburger Stadtzentrum entschärften Fünf-Zentner-Bombe stehen vom Rost der vergangenen sieben Jahrzehnte befreit in einer Reihe mit mehreren Granathülsen auf dem Schreibtisch von Torsten Kresse. Der 44-Jährige stellt klar: "Die sind jetzt natürlich ohne Sprengstoff."

Der Einsatzleiter beim Kampfmittelbeseitigungsdienst hat am 23. Oktober mit seinem Kollegen Olaf Machnik in gut einer Stunde die Fliegerbombe in Magdeburg entschärft. Wären die 125 Kilogramm TNT-Gemisch unkontrolliert explodiert, hätte eine Druckwelle in einem Bereich von mehr als hundert Metern jeden Menschen getötet. Ein weiteres Problem dürften die Splitter der 125 Kilogramm schweren Eisenhülle sein. Die rasierklingenscharfen, mehrere hundert Grad heißen Eisenteile können mit Hochgeschwindigkeit bis zu einem Kilometer weit fliegen. "Das haben wir bei kontrollierten Sprengungen schon erlebt. Die durchschlagen sogar dicke Häuserwände", so der Fachmann.

"Die Luftbilder geben uns Auskunft über die belasteten Gebiete." - Torsten Kresse, Einsatzleiter

Er hat schon rund 30 Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft, von der Ein- bis zur Zehn-Zentner-Bombe. Das ist nur ein kleiner Teil, wenn man bedenkt, dass in den vergangenen 20 Jahren rund 7000 Bomben in Sachsen-Anhalt entdeckt und unschädlich gemacht worden sind. Von der kleinen, ein Kilogramm schweren Stabbrandbombe bis zur rund 1,8 Tonnen schweren Luftmine. Deren Wirkung ist siebenmal größer als die einer Fünf-Zentner-Bombe, wie sie in Magdeburg entdeckt wurde. Die Detonation der Luftmine lässt noch in zwei Kilometern Entfernung Fensterscheiben zerbersten. Als "Master-Bombe" sollte sie der Wegbereiter für die Brandbomben sein und alle Dächer in einem Umkreis von etwa einem Kilometer abdecken. Blindgänger dieser Art sind zwar selten, kommen aber immer wieder vor. So wie am vergangenen Sonntag in Dortmund. Die Experten dort entdeckten den Blindgänger bei einer routinemäßigen Luftbildauswertung. Torsten Kresse: "Die Entschärfung eines solchen Kalibers ist eine echte Herausforderung. Diese Bomben haben sogar drei Zünder."

Auch in Sachsen-Anhalt war 1997 in Braunsbedra im Saalekreis eine solche Luftmine entdeckt worden. Sie wurde entschärft.

Für die Entschärfer selbst steht die Größe der Bomben oft an zweiter Stelle. Denn am Ende können für sie alle tödlich sein. "Angst habe ich keine, aber man sollte den Respekt vor seiner Aufgabe nicht verlieren", sagt Kresse.

Für ihn ist der Zünder entscheidend. Ist er noch intakt und von welcher Art ist er? Langzeitzünder sind die gefährlichsten. Ihr perfider Todesmechanismus: Wenn die Bombe nach dem Abwurf aus etwa 7000 Meter Höhe in einem Gebäude einschlägt, bleibt sie dort wie ein Blindgänger liegen. Im Zünder zerplatzt aber eine Aceton-Ampulle. Das Mittel zerfrisst langsam ein kleines Plättchen, das den Schlagbolzen auf Spannung hält. Es kann so zwischen 48 und 72 Stunden dauern, bis die Bombe explodiert. "Aus diesem Grund evakuieren wir beim Fund einer Bombe mit solchen Zündern sofort und versuchen erst gar nicht, sie zu entschärfen. Jede Bewegung kann die vielleicht noch intakte Ampulle auch später noch platzen lassen. Solche Munition muss sofort kontrolliert gesprengt werden", erklärt er. Letztmalig gab es so etwas 2007 bei Bauarbeiten in Rothensee. Die Fünf-Zentner-Bombe wurde sofort gesprengt.

Da helfen auch keine Roboter oder andere Hilfsmittel. Kresse: "Selbst bei mechanischen Zündern ist deren Einsatz schwierig. Jeder einzelne bereitet wegen des oft sehr hohen Verrostungsgrades seine eigenen Probleme. Moderne Technik kann die Handarbeit leider nicht ersetzen." Eine große Karte im Zimmer des Entschärfers verrät, wo in Sachsen-Anhalt noch immer viele Blindgänger lauern. Dazu werden Luftbilder der US-Army und Royal Air Force systematisch ausgewertet. "Sie geben uns Auskunft über die Lage möglicher Blindgänger", so Kresse.

Die meisten Bomben sind im Bereich Leuna/Merseburg niedergegangen, in Zeitz bei den Hydrierwerken und in Magdeburg sowohl in Buckau, Rothensee als auch im Stadtkern. Das Chemiedreieck im Süden des Landes ist voll mit roten Punkten, die Bombenangriffe der Alliierten darstellen. Aber auch die Regionen um Halle, Zerbst, Dessau, Halberstadt, Oschersleben, Aschersleben und Stendal waren Ziel zahlreicher Angriffe und sind somit ein hohes Gefährdungsgebiet für Blindgänger, die im Erdboden schlummern. "Aber auch entlang der Elbe ist in den letzten Kriegstagen sehr viel Munition einfach weggeworfen worden. Die Fundstellen sind quer durchs ganze Land vom Acker bis zur alten Gartenlaube", erklärt Kresse.

"Wie ein Feldstein taucht auch Munition im Laufe der Jahre wieder auf." - Oberstleutnant Thomas Hering

Den größten Fund, den die drei Trupps in Dessau, Halle und Magdeburg mit insgesamt neun Entschärfern zu entsorgen hatten, waren rund 2000 Bomben, die auf dem Flugplatz Köthen vor fünf Jahren entdeckt wurden.

Massenfunde gab es im Norden Sachsen-Anhalts in den vergangenen Jahren vor allem auf den Truppenübungsplätzen. Allein in der Colbitz-Letzlinger Heide sind in den vergangenen 20 Jahren 25.000 Tonnen Munition geborgen und entsorgt worden. Ingesamt gab der Bund dafür bis 2008 rund 360 Millionen Euro aus. Oberstleutnant Thomas Hering, Kommandant des Platzes: "Das Gelände ist zu 20 Prozent bis in 2,50 Meter Tiefe geprüft. Der Rest wurde an der Oberfläche abgesucht, was alle fünf Jahre wiederholt wird. Wie ein Feldstein taucht auch Munition im Laufe der Jahre wieder auf." Der Frost treibe den Munitionsschrott nach oben.

Ähnlich werden Blindgänger auch auf den Übungsplätzen Klietz und Altengrabow gesucht. Oberstleutnant Roman Jähnel: "Wir geben jährlich rund fünf Millionen Euro für die Beräumung der Plätze aus. Die eigene Munition entsorgen wir selbst, den Rest nimmt der Kampfmittelbeseitigungsdienst mit."

Im Zerlegebetrieb im Altmarkkreis Salzwedel werden die Bomben kontrolliert gesprengt oder verbrannt. Im vergangenen Jahr sind dort 585 Tonnen Munition entsorgt worden, 2011 waren es noch 1280 Tonnen.

Insgesamt gibt Sachsen-Anhalt 6,9 Millionen Euro für die Entsorgung der Bomben aus. Da das Gros der Munition von den Übungsplätzen stammte, gehe inzwischen das Aufkommen (siehe Infokasten) deutlich zurück. Torsten Kresse: "Ich bin mir sicher, dass wir auch noch in den nächsten Jahrzehnten häufig auf Fundmunition stoßen werden."