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Zwischenfall im kalten Krieg Abschuss über der Altmark

Von Oliver Schlicht 05.03.2014, 02:26

Gardelegen l 10. März 1964. Sowjetische MiG-19 im Luftkampf über Gardelegen. Ein US-Bomber, der abstürzt. Drei US-Piloten, die an Fallschirmen vom Himmel fallen. Keine 20 Jahre nach Kriegsende sorgte ein militärischer Zwischenfall in Sachsen-Anhalt für Furore.

Ulrich Huse sitzt am Esstisch in seiner kleinen Plattenbauwohnung am Ortsrand von Pirna in Sachsen. Verheiratet ist er, 75 Jahre, 1990 bei Auflösung der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR Oberstleutnant der Luftstreitkräfte. Vor ihm ausgebreitet: Zeitungsartikel, Bücher, persönliche Aufzeichnungen. "Das war ein Spionageflug. Da bin ich mir ganz sicher", beteuert er. Gemeint sind die Vorkommnisse vom 10. März 1964.

Ulrich Huse ist damals Leutnant und Zugführer einer Funkmessstation in einer Luftabwehrstellung bei Altensalzwedel, knapp 15 Kilometer südlich von Salzwedel. Seit früh um sieben Uhr läuft sein Dienst. Drei Soldaten, ein Unteroffizier. Jetzt ist es 14 Uhr Ortszeit. Draußen scannt eine Radar-Messeinheit den Himmel ab. Die Daten werden in einen Gefechtsstand übertragen. Dort blickt ein Soldat auf das Rundsichtgerät. Neben ihm sitzt Leutnant Huse.

Flugobjekte identifizieren, die verdächtig sind

Zwischen 20 und 50 Flugkörper werden da auf dem Schirm gleichzeitig registriert. Zivile Luftfahrt, Agrarflieger, Militärmaschinen. Der Soldat hat die Aufgabe, in Sekundenschnelle Flugobjekte zu identifizieren, die verdächtig sind. Auch Flugzeuge der Alliierten, die im vereinbarten Korridor nach Westberlin unterwegs sind, hat er auf dem Schirm. In der Regel sind diese Flüge registriert.

Da meldet der Soldat plötzlich ein Flugobjekt von Südwest kommend - außerhalb des Korridors. "Wir richten die Antenne aus. Dann wird eine Höhe von 6500 Meter registriert. Das war über 3000 Meter zu hoch", erinnert sich Huse. Er ruft den Kompaniechef aus dem Nebenzimmer und meldet den Flug als "Luftraumverletzer" ins Luftverteidigungszentrum nach Neubrandenburg zu den Sowjettruppen. Die hatten 1964 im Westen der DDR die Befehlsgewalt über die Luftverteidigung. In Altensalzwedel blicken Offiziere und Soldaten gebannt auf das Radar-Rundsichtgerät.

Etwa eine Stunde zuvor war der US-Bomber vom Typ RB-66 "Destroyer" im französischen Toul-Rosieres gestartet. Captain David I. Holland steuert die Maschine auf einem Ausbildungsflug - so später die US-Darstellung. Navigator Harold Welch soll eingearbeitet werden. Ein zweiter Navigator an Bord, Melvin J. Kessler, schaltete angeblich den Radiokompass ab, um den Jung-Navigator zu testen, berichtet später die US-Zeitschrift "Combat Aircraft". Die Folge: Der RB-66-Bomber fliegt zu weit östlich in den Luftraum der DDR ein. Nördlich von Magdeburg steuert Captain Holland das Flugzeug in Richtung Brandenburg, etwa 70 Kilometer tief über DDR-Hoheitsgebiet.

Zufall? Zur gleichen Zeit findet dort ein großes Manöver der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) statt. Zum Einsatz kommen Boden- und Luftstreitkräfte. Mit prominenten Beobachtern. Im Führungsstand stehen der sowjetische Verteidigungsminister, Marschall Andrei Gretschko, und der Chef der Luftstreitkräfte, Hauptmarschall Konstantin Werschinin. Beide sind kriegserprobte Generäle. Kein guter Tag, um einen Kompass abzuschalten - wenn es denn so war.

RB-66 steigt auf 8500 Meter Höhe

14.30 Uhr Ortszeit. In der Funkmessstation Altensalzwedel steht Ulrich Huse neben seinem Kompaniechef, beide blicken auf das Radar-Rundsichtgerät und halten die Funkverbindung in den sowjetischen Führungsstab. Etwa 900 Stundenkilometer schnell fliegt die RB-66. Sie ist auf 8500 Meter Höhe gestiegen und steuert wieder in Richtung Westen. Inzwischen wurde Gefechtsalarm ausgelöst. Auch andere Funkmessstationen haben nun den Luftraumverletzer gezielt im Visier. "Da!" Huse zeigt auf den Radarschirm. Kleine Punkte bewegen sich mit großer Geschwindigkeit in Richtung RB-66. "Uns war sofort klar, dass dies MiG-Jagdflieger unserer Luftabwehr sind", erinnert sich der ehemalige NVA-Offizier. Nun wird es ernst. Eine solche Situation hatte der damals 24-Jährige bis dahin noch nicht erlebt.

Insgesamt erhalten von Wittstock und Altengrabow aus vier MiG-19-Abfangjäger der sowjetischen Luftstreitkräfte einen Einsatzbefehl zum Abfangen der RB-66. Eine Aufforderung zur Landung wird von dem US-Bomber ignoriert. Captain Holland vermutet seine Position in unmittelbarer Nähe der Grenze. Er irrt sich.

Die erste MiG-19 erhält Feuerbefehl. Doch bei ihr versagen die Waffen. Einen zweiten Jäger erreicht der Feuerbefehl nicht. Er dreht ab. Zwei MiG-19 kommen um 14.53 Uhr dem RB-66-Bomber auf Sichtweite nah. Die Piloten beschreiben nach der Wende in Zeitungsbeiträgen den nun folgenden Luftkampf. Pilot Vitalij Iwannikow sieht Warnschüsse des anderen Jägers, dann kommt es fast zum Zusammenstoß mit dem US-Bomber. Grund: Holland fährt seine Landeklappen aus, was seine Geschwindigkeit abrupt verlangsamt. Iwannikow kommt bis auf 150 Meter an den US-Bomber heran.

<6>Rauch zeigt sich im Bereich des linken Triebwerks

Iwannikow: "Nach dem Abbruch des Angriffes von Hauptmann Sinowjew vollzog ich eine innere Linkskurve und erhielt den Befehl des Gefechtsstandes zur Feuereröffnung und Vernichtung mit unlenkbaren Raketen S-5. Die Spur der Rakete und der Treffer waren deutlich zu beobachten." Rauch habe sich im Bereich des linken Triebwerkes gezeigt. "Auf Grund der geringen Schussweite kamen Splitter in die Flugbahn, mit den Folgen eines Durchschlages meines rechten Zusatztanks", so der Pilot. Doch er kann sicher landen. Die RB-66 trudelt dagegen abwärts und zerschellt auf einem Feld bei Gardelegen. Die drei US-Piloten schweben an Fallschirmen herab. 26 Minuten hatte der kurze Luftkrieg gedauert.

Der erwähnte Splitter wird später aus dem Tank der MiG gezogen und Verteidigungsminister Gretschko im Führungsstab als Trophäe auf den Tisch gelegt. "Prachtkerle. Das Manöver beginnt mit einem realen Gefechtseinsatz", soll dieser dann gesagt haben, so der anwesende Marschall Iwan Pstygo in seinen Erinnerungen.

Ehrhard Kautge, langjähriger Bürgermeister von Hemstedt, war zu dieser Zeit mit einem Pferde-Gespann im Wald unterwegs. Er hörte den Lärm eines Luftgefechts. "Das sah aus wie Flak, wie Sprenggranaten", erinnert er sich später. Dann seien viele Teile im Wald niedergegangen. Zehn Meter von ihm entfernt krachte eins der Schleudersitzgestelle durchs Geäst. Wenig später fuhren sowjetische Militärfahrzeuge herum.

Die drei US-Piloten überlebten den Abschuss, nur einer verletzte sich leicht. Helmut Appel, früher Bürgermeister in Algenstedt, berichtet, dass in der Nacht nach dem Absturz plötzlich zwei Offiziere der amerikanischen Militärmission an seinem Bett gestanden und nach den abgeschossenen Piloten gefragt haben. Appel schickte die US-Offiziere zum Vorsitzende der LPG Einigkeit Lindstedt, Willi Gille. Der hatte einen der Piloten aufgesammelt und mit seinem Trabant 500 ins Krankenhaus gefahren. Alle drei werden gefangen genommen.

Vier Wochen später wurde veranlasst, dass die US-Piloten "ausnahmsweise", wie das SED-Parteiorgan "Neues Deutschland" mitteilte, ausgeliefert wurden. "Unter Berücksichtigung dessen, dass die Regierung der USA ihr Bedauern über dieses Vergehen ausgedrückt hat", so die Zeitung.

US-Präsident Lyndon B. Johnson verkündete später, dass die US-Flugzeuge zukünftig einen 48 Kilometer langen Korridor entlang der innerdeutschen Grenze nicht mehr befliegen wollen, um damit "Irrflüge Richtung Osten" zu verhindern. Tatsächlich blieb der Abschuss eines Flugzeuges an der Nahtstelle der verfeindeten Militärblöcke wie im Fall der RB-66 die Ausnahme. 40 Jahre lang ereigneten sich nur vereinzelt vergleichbare Vorfälle.