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Mindestlohn Jobvernichter oder Heilsbringer?

CDU und SPD sind sich einig: Der Mindestlohn soll her, damit jeder so
viel verdient, dass er davon auch leben kann. Für einige Unternehmen in
Sachsen-Anhalt ist das eine enorme Herausforderung, weil sie entweder
Preise für Verbraucher erhöhen oder Personal abbauen müssen.

23.05.2014, 01:18

Magdeburg/Stendal l Larissa Keil hat um die Mittagszeit viel zu tun. Die Bäckerei-Fachverkäuferin packt geschmierte Brötchen für Dutzende Schüler ein, die in ihrer Pause die Filiale der Landbäckerei in der Stendaler Innenstadt aufsuchen. Zwischen die Jugendlichen gesellen sich auch ältere Kunden, die aus dem benachbarten Supermarkt kommen und neben ein paar Stückchen Kuchen noch einen Kaffee zum Mitnehmen bestellen. Die 23-Jährige bleibt freundlich, bedient einen nach dem anderen.

Bäckerei-Inhaber Andreas Bosse erklärt, dass je nach Andrang auch ungelernte Aushilfen in den Filialen arbeiten. Ab 2015 wird sich das ändern, Grund ist der Mindestlohn. "Bei uns verdienen gelernte Verkäuferinnen derzeit sieben Euro die Stunde", erklärt Bosse. Wenn nun der Mindestlohn kommt, müssten bereits Aushilfen 8,50 Euro pro Stunde erhalten, Fachkräfte wie Larissa Keil noch mehr. "Und das kann ich mir nicht leisten."

100 Aushilfen müssen gehen

Bosse will sich deshalb von den 100 Aushilfen, die er in den 128 Filialen der Landbäckerei derzeit beschäftigt, ab kommendem Jahr trennen. Fachkräfte wie Larissa Keil sollen dann statt dem Haustarif von sieben Euro mindestens 8,50 Euro pro Stunde erhalten und länger arbeiten, um das Pensum der dann fehlenden Aushilfen abzudecken. Den Jobabbau würde Bosse gerne vermeiden, doch er hat nach eigenen Angaben keine Wahl. "Irgendwie muss ich die Mehrkosten durch die Lohnerhöhung ja kompensieren", sagt er.

In der Bäckerbranche ist das aber schwierig, die Gewinne bei Backwaren liegen im Centbereich. "Wie soll ich Millionen-Kosten damit abdecken?", fragt Bosse. Der Gesamtumsatz der Bäckereikette liegt bei 20 Millionen Euro, der Mindestlohn würde Bosse um die zwei Millionen Euro Mehrkosten pro Jahr bescheren. Neben den geplanten Entlassungen will Bosse Investitionen aufschieben und auch die Preise für seine Backwaren erhöhen - allein aber schon, um die gestiegenen Energiekosten auszugleichen. Und verprellen darf er seine Kunden auch nicht, weil Supermärkte mit Discount-Brötchen ohnehin schon einen enormen Druck auf Bäckereien ausüben.

Wirtschaftswissenschaftler Andreas Knabe von der Universität Magdeburg sieht die geplante Einführung des Mindestlohns kritisch. "Firmen können immer nur so viele Mitarbeiter einstellen, wie es die Wertschöpfung bei den Produkten hergibt", erklärt er. Die Wertschöpfung müsse so hoch sein, dass sie die Lohnkosten, die gewöhnlich durch Arbeitskräftenachfrage und -Angebot bestimmt werden, ausgleicht.

Taxi-Preise steigen um 30 Prozent

Der Mindestlohn stellt Knabe zufolge einen künstlichen Eingriff dar: Die Politik erhöht für die Unternehmen die Lohnkosten, ohne dass ihre Wertschöpfung steigt. "Wenn Unternehmen die Kosten nicht über Preiserhöhungen an ihre Kunden weitergeben können, müssen sie Mitarbeiter entlassen", erläutert Knabe. Eben jener Fall tritt offenbar in der Bäckerbranche ein.

Etwas anders sieht es bei den Taxi-Unternehmen aus. In Magdeburg liegt der Stundenlohn der Fahrer bei fünf Euro, auch er muss per Gesetz steigen. Weil die 150 Firmen aber in einer Genossenschaft organisiert sind, alle damit die gleichen Löhne zahlen müssen und keinen Wettbewerb über die Verdienste führen, fällt es ihnen leichter, die steigenden Lohnkosten auf die Kunden abzuwälzen. Die Firmen haben bereits angekündigt, dass die Fahrpreise wohl um 30 Prozent steigen werden, sich der Grundtarif dann von 2,80 Euro auf 3,60 Euro erhöht.

Lohnuntergrenze benachteiligt Arme

Ähnlich sieht es bei privaten Sicherheitsdiensten aus. Ein Wachmann, der vor vier Jahren in der unteren Lohngruppe noch 4,70 Euro pro Stunde verdiente, bekommt ab 2015 8,60 Euro, ab 2016 sogar 9 Euro. Die Sicherheits-Branche verkraftet die Lohnerhöhungen nur deshalb, weil sie die Preise an ihre Kunden weitergeben kann - und weil die Politik die Tarife der Branche schon vor Jahren für allgemeinverbindlich erklärt hat, sich jedes Unternehmen also daran halten muss.

Wirtschafts-Experte Andreas Knabe kritisiert hierbei, dass Mindestlöhne nur den Anschein haben, sozial zu sein. "Auf den ersten Blick bekommen zwar Arbeitnehmer mehr Geld, aber die folgenden Preiserhöhungen müssen alle Verbraucher tragen, egal, ob sie arm oder reich sind." Das gelte für das teurere Brötchen beim Bäcker wie für den höheren Taxifahrpreis.

Knabe ist dabei niemand, der sozialen Ausgleich grundsätzlich infrage stellt. "Wir haben uns in der Gesellschaft darauf verständigt, dass jeder ein existenzsicherndes Einkommen haben soll", betont er. Die Frage sei nur, wie man dazu kommt.

Für ihn ist das Aufstocker-Modell, wie es mit den Arbeitsmarktreformen eingeführt wurde, immer noch besser als der Mindestlohn. Jene, die mit ihrem Job nicht genügend verdienen, bekommen als Ergänzung Arbeitslosengeld II. "Das hat dazu beigetragen, dass seit 2005 die Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt und in Deutschland insgesamt rapide gesunken ist", erklärt Knabe.

Frankreich zahlt Firmen 22 Milliarden Euro

Die Aufstocker werden zwar vom Staat mitfinanziert, doch das sei immer noch besser, als durch den Mindestlohn ihre Arbeitsplätze zu gefährden - und obendrein noch gerechter. Denn: "Der Staat finanziert seine Kosten über die Steuereinnahmen. Und Reiche zahlen mehr ein als Arme." Beim Mindestlohn hingegen müssen alle höhere Preise für Brötchen zahlen.

Kein gutes Haar lässt Knabe auch am vielzitierten Mindestlohn in Frankreich. Er liegt derzeit bei 9,43 Euro. "Den gibt es dort zwar schon recht lange. Nur unterschlagen die Befürworter, dass der Staat dort mehr als 22 Milliarden Euro pro Jahr Subventionen an Firmen zahlt, damit sie Mitarbeiter zum Mindestlohn einstellen." Die Kosten, die dem deutschen Staat durch Aufstocker-Löhne entstehen, würden dagegen deutlich geringer ausfallen, weil Subventionen nie so effizient ausgezahlt werden können wie direkte Lohnergänzungen. Sie liegen bei etwa zehn Milliarden Euro pro Jahr.

Knabe kann aber auch nachvollziehen, weshalb CDU und SPD auf den Mindestlohn setzen. "Das Problem, das sie haben, ist nicht ein wirtschaftliches, sondern ein psychisches", erklärt er. Mit dem Aufstockerlohn, der unter dem Namen "Arbeitslosengeld II" gezahlt wird, werde dem Arbeitnehmer immer direkt vor Augen geführt, dass er vom Staat abhängig ist. "Dabei entsteht ein Gefühl der Ungerechtigkeit", sagt Knabe. Mit dem Mindestlohn wolle die Große Koalition nun signalisieren, dass sie diese Ungerechtigkeit nicht toleriere.

Handwerk lehnt Lohnerhöhungen nicht ab

Tatsächlich ist die Mindestlohn-Frage eben auch keine rein wirtschaftliche, sondern auch eine gesellschaftliche. Sie lautet: Was ist Arbeit wert?

Andreas Hänisch betreibt ein Friseurgeschäft mit drei Mitarbeitern in Magdeburg. "Fließbandarbeit passt nicht zu einem Friseur. Der Mindestlohn wird dafür sorgen, dass unsere Arbeit wieder als Handwerk angesehen wird", sagt der 41-Jährige. Von Discount-Ketten, die Haarschnitte unter 10 Euro anbieten und ihre Mitarbeiter entsprechend niedrig bezahlen, hat er nie viel gehalten.

Mit Blick auf die bevorstehenden Lohnerhöhungen bleibt er gelassen: "Wir haben schon im vergangenen Jahr damit begonnen, unsere Preise stufenweise anzupassen", erzählt Hänisch. Seine Kunden hätten dafür auch bislang immer Verständnis gehabt - weil sie qualitativ hochwertige Arbeit schätzten. "Für unsere Branche wird künftig gelten: Wer gut ist, der hat sein Geld", sagt Hänisch. Für den Fall, dass er finanziell in Schwierigkeiten kommt, würde er bestenfalls darüber nachdenken, die Arbeitszeiten zu verlängern. An Kündigungen denkt Hänisch jedoch vorerst nicht.

Jeder Dritte verdient weniger als 8,50 Euro

Gelassen reagiert auch die Handwerkskammer Magdeburg auf den Mindestlohn. "In den meisten Bereichen werden schon jetzt auskömmliche Löhne gezahlt", sagt Geschäftsführer Burghard Grupe. Problematisch schätzt er lediglich die Bereiche Bäckerei, Friseure und Fleischer ein. "Hier wäre es sinnvoll, wenn die Große Koalition den Branchen mehr Zeit geben würde, die Bezahlungen anzupassen."

Grupe regt zudem an, dass der Mindestlohn erst für Arbeitnehmer ab 25 Jahren gelten sollte. "Andernfalls könnte es sich für Jugendliche lohnen, auf eine Ausbildung zu verzichten, weil sie als ungelernte Kräfte bei einem Stundenlohn von 8,50 Euro plötzlich vermeintlich viel Geld verdienen könnten." Für adäquate Bezahlungen spreche aber, dass Firmen künftig angesichts des Fachkräftemangels ohnehin mehr zahlen müssen.

Nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) verdienen derzeit 285.000 Arbeitnehmer in Sachsen-Anhalt derzeit weniger als 8,50 Euro die Stunde. Das sind 34 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Land. Ob die meisten ab 2015 mehr verdienen oder ob manche zuvor ihren Job verlieren, bleibt abzuwarten. Wirtschaftsexperte Knabe betont: "Es wird ganz darauf ankommen, ob die Unternehmen die gesetzlich verordneten Lohnerhöhungen kompensieren können." Klar sei aber: Noch nie habe die Politik derartig stark in den Markt eingegriffen.