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Stasi-Verstrickungen Wenig Lust auf Offenheit

Wer politische Verantwortung übernimmt, soll sich auf Stasi-Verstrickungen überprüfen lassen - das fordert die Stasi-Landesbeauftragte. Die Bereitschaft dazu ist in Sachsen-Anhalt jedoch gering. Einige frühere Spitzel sitzen noch heute in Stadträten und Kreistagen.

12.08.2014, 01:26

Magdeburg l In Barleben, Kalbe und Genthin tun sie es. In Burg, Jerichow, Quedlinburg und vielen anderen Orten nicht. Überall in Sachsen-Anhalt diskutieren Stadträte und Kreistage derzeit darüber, ob die im Mai gewählten Kommunalpolitiker auf eine mögliche Vergangenheit für die DDR-Staatssicherheit überprüft werden sollten. Erste Zwischenbilanz: Die Mehrheit der Lokalpolitiker lehnt das ab.

"Nicht mehr zeitgemäß", "Es gab schon viele Überprüfungen" oder die Angst vor einer "Hetzjagd" bei einem positiven Befund sind die Argumente, die landauf, landab vorgetragen werden. Eine neue Überprüfungswelle gibt es nicht. Ein "Akt der politischen Hygiene und Transparenz", wie ihn Stasi-Landesbeauftragte Birgit Neumann-Becker vor zwei Monaten gefordert hatte, ist nur an wenigen Orten zu erkennen.

Und trotzdem wird die Landesbeauftragte nicht müde zu betonen, dass ein neuer Stasi-Check auch 25 Jahre nach der Einheit wichtig sei. "Es ist immer noch erkennbar, wie tief die Spuren der SED-Herrschaft bei vielen Opfern sind", sagt Neumann-Becker.

In den meisten Gemeinden regt sich jedoch Widerstand. Lokalpolitiker äußern ihr Unverständnis, dass sie zum wiederholten Mal überprüft werden sollen. So zum Beispiel Stadtrat Helmut Halupka (SPD) aus Genthin. Nach langer Diskussion hatten sich die Fraktionen im Rat dort dazu durchgerungen. Halupka versteht das nicht. "Ich lehne eine erneute Überprüfung ab. Ich wüsste nicht warum", sagt er. Neumann-Becker kann das nachvollziehen, sagt aber: "Es gibt immer wieder neue Erkenntnisse. Dem sollte man sich nicht verschließen."

Ein Beispiel: Der ehemalige Genthiner Bürgermeister Wolfgang Bernicke (parteilos). Der 66-Jährige ist im Mai wieder für die Linke in den Kreistag im Jerichower Land eingezogen. Dass Bernicke für die Stasi tätig war, ist schon Anfang der 90er Jahre bekannt geworden. Anfangs hatte er es abgestritten, dann musste er seine IM-Tätigkeit schließlich doch einräumen.

Der Blick in die Akte des IM "Dieter Chudoba" offenbart nun: Bernicke wäre mit Freude noch mehr als nur "inoffizieller Mitarbeiter" des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen. Im Anwerbungsbericht vom 22. Juni 1977 ist protokolliert, dass er gern schon viel früher "operativer Mitarbeiter des MfS geworden wäre, jedoch hätte sich dieses zerschlagen. Er bedauerte dieses." Die folgende Textpassage ist geschwärzt - wie so manch andere Stelle auf den folgenden Seiten. Immer dann, wenn es um Personenberichte geht.

Bernicke war ab 1979 Bürgermeister in Genthin. Zwei Jahre später hat er seine Vorgesetzten bei der Stasi regelmäßig über Mitarbeiter des Rates der Stadt informiert. Einen schätzte er als "hinterhältig" ein, einen anderen schwärzte er wegen der Vergabe einer Wohnung an die 7-Tage-Adventisten an.

Besonders brisant: Eine Auseinandersetzung mit einer Mitarbeiterin, die wegen ihrer "Geschwätzigkeit" in der Kritik stand. Sie sei nicht fähig, ihre Arbeit zu organisieren. Sie versuche ständig, im Mittelpunkt zu stehen. Sie halte andere von der Arbeit ab. Bernickes Vorgesetzter protokolliert: "Der IM wird mit aller Konsequenz die Veränderung in der Planstelle herbeiführen, so daß dieser Unsicherheitsfaktor beseitigt wird."

Sollten Ex-Stasi-Mitarbeiter wie Bernicke heute weiter kommunalpolitisch aktiv sein dürfen? Stasi-Landesbeauftragte Birgit Neumann-Becker meint: "Ich halte das grundsätzlich für möglich." Dennoch müsse jeder Fall für sich bewertet werden. "Eine Stasi-Vergangenheit und ein politisches Mandat schließen sich nicht aus. Aber die Wähler sollten das wissen, sie haben ein Recht auf Transparenz."

Zu dieser Transparenz gehört für die Landesbeauftragte auch die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Sie fragt kritisch: "Hat Herr Bernicke mit denen gesprochen, über die er berichtete? Hat er sich für die Folgen seines Handelns interessiert? Wie schätzt er aus heutiger Sicht seine IM-Tätigkeit ein und wie unterstützt er die Aufarbeitung der SED-Diktatur?"

Wolfgang Bernicke will darauf nicht antworten. Einen Termin mit der Volksstimme hat er kurzfristig abgesagt. Begründung: "Weil ich eine Beschäftigung mit diesem Thema als nicht mehr zeitgemäß ansehe."

Andere ehemalige Stasi-Mitarbeiter sind gesprächsbereit. Auch Gardelegens Bürgermeister Konrad Fuchs hat seine IM-Tätigkeit einräumen müssen und wurde - wie Bernicke nach der Wende - mehrfach mit großer Mehrheit von den Bürgern gewählt. "Ich kann diese Zeit erklären, aber nicht mehr ändern", sagt der SPD-Politiker heute. Viele Menschen hätten das akzeptiert. Der Grund? "Weil ich eine ehrliche Haut bin", meint Fuchs.

Dennoch ist ihm bei der Thematik auch Verärgerung anzumerken. "In Deutschland ist immer alles schwarz oder weiß. Aber das Leben ist bunt", sagt Fuchs und kritisiert: "Wie lange wollen mir das Einzelne eigentlich noch nachtragen? Wie lange wollen wir noch über dieses Thema diskutieren?"

Noch mindestens fünf Jahre - wenn es nach Birgit Neumann-Becker geht. Bis 2019 sind Stasi-Überprüfungen gesetzlich möglich. Die Landesbeauftragte findet das gut. "Diese Menschen gestalten das öffentliche Leben einer Kommune. Was spricht dagegen, zu erfahren, was sie früher gemacht haben?", sagt sie und sieht darin auch für die Kommunalpolitiker einen Vorteil. "Es gibt Betroffene, die sich immer wieder dem Stasi-Vorwurf ausgesetzt sehen. Die Überprüfung ist eine Chance zur Klarheit. Derjenige ist nicht mehr erpressbar."

Und dann? Was muss passieren, wenn eine Stasi-Vergangenheit offenbar wird? Dann sei Sensibilität besonders wichtig, den Betroffenen sollte vor der Veröffentlichung die Möglichkeit für eine eigene Reaktion gegeben werden, sagt die Landesbeauftragte. "Eine Mandatsniederlegung kann - je nach Schwere der Vorwürfe - natürlich eine Option sein."

Für Wolfgang Bernicke war es das bisher nicht. Die Tätigkeit des IM "Dieter Chudoba" endete im April 1988 - wegen "fehlender subjektiver Voraussetzungen für einen Einsatz als IM in Schlüsselpositionen". Er hatte sich mit seinen Vorgesetzten überworfen.