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Blick in die Zukunft Elektro-Auto und Mars-Besuch

Erde-Hauptstadt Moskau, Ferien auf dem Mars, ein Schnellzug von
Magdeburg nach Tokio - so haben Jugendliche 1985 in ihren Aufsätzen das
Jahr 2010 beschrieben. Viele Visionen von damals sind auch heute noch
unerreicht. Doch einige Prognosen der Schüler sind tatsächlich
eingetroffen.

28.11.2014, 01:18

Magdeburg l Nein, wirklich systemkonform sind diese Jugendlichen wohl nicht gewesen. Denn das, was die 15-Jährigen an jenem 18. September 1985 zu Papier brachten, war nahezu unpolitisch - und wäre vielleicht sogar für einige gefährlich geworden, wenn es in die falschen Hände gefallen wäre. West-Autos, Reisen nach Paris, Ferien im Weltall - davon träumten die Magdeburger Schüler, wenn sie an das Jahr 2010 dachten. Die entwickelte sozialistische Gesellschaft? In den Aufsätzen nahezu kein Thema.

"Das hat mich damals echt überrascht", sagt Bärbel Spengler heute. Im September 1985 war die 22-Jährige seit zwei Wochen im Schuldienst beschäftigt. Sie war unsicher, wie sie die Vertretungsstunde in der 9. Klasse der Magdeburger POS Käthe Kollwitz über die Bühne bringen sollte. Also ließ sie einen Aufsatz schreiben: "Wie stelle ich mir das Leben im Jahr 2010 vor?" Als die Schüler fleißig loslegten, war sie beruhigt. Doch mit deren offenen Worten hatte sie nicht gerechnet. "Ich dachte, die Schüler schreiben das auf, wo sie meinten, dass das der Lehrer hören wollte. Doch das war überhaupt nicht der Fall. Sie beschrieben frei ihre Träume und redeten offen vom Westen. Dieser Mut hat mich beeindruckt", sagt die Pädagogin. Die Aufsätze hat sie damals nicht an die Schüler zurückgegeben.

So stellten sich die Jugendlichen 1985 unsere Zeit heute vor:

1. Reise ins Weltall
Etwa die Hälfte der Schüler träumte von einer Reise zum Mond, Mars oder einem Kometen. Matthias wollte dazu von Cape Canaveral in Florida starten, weil es "keine Grenzen" mehr gibt. Elisa schrieb: "Man kann seine Ferien auf dem Mars oder einem anderen Planeten verbringen." Das war auch der Plan von Olaf. Er wollte ein "paar Nächte auf dem Mond zelten".
Realität
Im Jahr 2004 hatte US-Präsident George W. Bush erste Pläne für eine bemannte Marsmission nach 2020 angekündigt. Nachfolger Obama hat das Nasa-Programm jedoch aus Kostengründen gestrichen. Bisher waren nur Sonden und Rover auf dem Mars. Auch Flüge für jedermann zum Mond sind auf absehbare Zeit nicht realistisch. In einigen Jahren könnten private Unternehmen jedoch erstmals Ausflüge ins Weltall anbieten.

2. Auto
Viele Schüler machten sich Gedanken über ihr Auto. Steffen wollte einen Mercedes fahren, ein anderer mit seinem Wagen fliegen. Anne glaubte, dass die Autos automatisch Unfälle verhindern würden. Und Martins Prognose war ziemlich gut: "Die Autos fahren nicht mehr mit Benzin, sondern elektrisch."
Realität
Am 1. Januar 2014 waren in Deutschland 12000 Elektro-Pkw angemeldet. Bis 2020 sollen es laut Kanzlerin Angela Merkel eine Million sein. Die Hersteller geben Gas in der Entwicklung: Den VW E-up! gibt es ab 27000 Euro, den BMW i3 ab 35000 Euro.

3. Urlaub
Etwa die Hälfte der Schüler schrieb frei von Reisen in westliche Länder. Elisa war sich sicher, dass jeder in das Land fahren könne, "wo er gerne möchte". Die Schüler nannten fast ausschließlich Flugzeug-Ziele: New York, Paris, Brasilien (dort war nur wenige Wochen vor dem Aufsatz die Demokratie wieder errichtet worden). Maria hingegen träumte von einem Zug von Magdeburg nach Tokio - Reisezeit: 30 Minuten.
Realität
Eine Zugverbindung bis Tokio existiert bisher nicht. Von Magdeburg kommt man maximal bis ans Ende von Russland, Wladiwostok. Bei einem Start am heutigen Freitag wäre man mit der Bahn in sieben Tagen am Ziel. Reisezeit: 171 Stunden und zwei Minuten.

4. Freizeit
Computer waren bei den Jugendlichen schon 1985 präsent. Michael schrieb: "In jedem Haushalt sollte es Computer geben." Auch Kinder sollten Spielcomputer haben.
Realität
Laut einer Forsa-Studie belasten Konflikte über den Umgang mit dem Computer heute das Familienleben in jedem dritten Haushalt. Die Hälfte der Zwölf- bis Dreizehnjährigen hat heute bereits ein internetfähiges Handy. Durchschnittlich drei Stunden täglich sind Jugendliche im Internet unterwegs. Experten raten: Jugendliche in diesem Alter sollten pro Tag maximal 75 Minuten am Computer verbringen.

5. Sport
Jürgen war sich sicher: "Der Sport besteht nur noch fast aus Tennis." Wenige Monate vor dem Aufsatz hatte Boris Becker als erster Deutscher das Grand-Slam-Turnier in Wimbledon gewonnen.
Realität
Die beliebteste Sportart der Menschen in Deutschland ist Fußball. Es folgen Boxen, Rennsport, Skispringen, Biathlon und Leichtathletik. Tennis liegt nur auf Platz 12.

6. Kultur
Das Thema Sprache hat einige Jugendliche sehr beschäftigt. Vielleicht, weil sie wenig Lust hatten, andere Sprachen zu lernen. Steffen dachte sich wie einige seiner Mitschüler: "Im Jahre 2010 dürfte es nur noch eine Sprache geben, diese Sprache müßte Deutsch sein."
Realität
Laut den Sprachforschern des Summer Institute of Linguistics liegt Deutsch bei der weltweiten Verbreitung als Sprache nur auf Platz 12. Weltsprache Nummer 1 ist Chinesisch (1,2 Milliarden Sprecher), es folgen Spanisch (414 Millionen), Englisch (335), Hindi (260).

7. Musik
Jürgen hat sich in seinem Aufsatz mit Musik beschäftigt. Er schrieb: "Die Musik ist jetzt fast nur noch Elektro-Musik wonach die jungen Leute tanzen, aber für mich alten Mann sind Billy Idol und Depeche Mode genau das Richtige."
Realität
Depeche Mode sind immer noch auf Tour, erst vor zwei Wochen hat die Band ein neues Live-Album veröffentlicht. Auch Billy Idol macht noch Musik, Jürgen dürfte heute in seiner Freizeit also nicht langweilig werden. Jugendliche hören laut Umfragen jedoch am liebsten Hip-Hop und Rap.

8. Architektur
Zwei Schüler machten sich Gedanken über die Entwicklung der Städte. Einer schrieb: "Es müßte Häuser geben, die 200 Stockwerke haben."
Realität
Der Burj Khalifa (Dubai), das höchste Gebäude der Welt, kommt da nicht ganz heran. Es hat 189 Stockwerke und ist 830 Meter hoch. Im 122. Stock befindet sich das höchstgelegene Restaurant der Welt.

9. Umwelt
In fünf Aufsätzen werden Umweltprobleme reflektiert. Maria schrieb: "Die Flüsse müssen auch wieder so klar werden wie der Blausee bei Rübeland." Sie ärgerte sich darüber, dass die Elbe von "oben bis unten beschmutzt" sei. Noch deutlicher wurde ihre Mitschülerin Katharina: "Vielleicht wird es sogar Proteste geben, dass die Hunde in alle Ecken scheißen!"
Realität
Die Elbe ist heute so sauber wie seit 150 Jahren nicht mehr. Mit dem Ende der DDR-Schwerindustrie hat sich die Wasserqualität stark verbessert. Seit 1985 hat sich der Gehalt von Quecksilber im Wasser um 94 Prozent reduziert, der Gehalt von Phosphor sank um 71 Prozent. Inzwischen leben mehr als 90 Fischarten in dem Fluss.

10. Krieg und Frieden
Neun der 21 Schüler beschäftigten sich in ihren Aufsätzen mit Konflikten. Einschätzungen zu konkreten, damals aktuellen Ereignissen, gab es jedoch kaum. Häufiger wurden allgemeine Wünsche formuliert. Elisa schrieb zum Beispiel: "Es dürfte keinen Krieg mehr geben." Und auch Anne wünschte sich: "Atombomben sollten abgeschafft sein."
Realität
Die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China haben zusammen etwa 5000 aktive Sprengköpfe. Einige andere Staaten (Pakistan, Iran, Nordkorea) dürften auch Atomwaffen besitzen oder haben die Absicht, Kernwaffen zu erzeugen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen ist die Zahl der Flüchtlinge weltweit so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Im Jahr 2013 waren mehr als 51 Millionen Menschen auf der Flucht. Allein vom Bürgerkrieg in Syrien sind 5,5 Millionen Kinder betroffen.

11. Politik
Die meisten Aufsätze sind erstaunlich unpolitisch. Nur wenige Schüler haben sich mit dem Sozialismus oder der sozialistischen Gesellschaft beschäftigt. Ein Schüler schrieb, Moskau werde im Jahr 2010 die Hauptstadt der Erde sein. Anne prognostizierte: "Der Kapitalismus ist ausgerottet." André wünschte sich: "Hoffentlich gibt es keine Armut mehr in der Welt und keinen Hunger mehr, alles müßte so sein wie im Sozialismus."

Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Elisa dagegen hat einen sehr interessanten Satz aufgeschrieben. Die 15-Jährige notierte: "Es gibt keine Regierung mehr." Das stimmt zwar so nicht ganz, doch zumindest in ihrem Land ist das eingetroffen. Knapp vier Jahre später fiel in der DDR die Mauer. Am 3. Oktober 1990 gab es ihre Regierung tatsächlich nicht mehr.

(Alle Schülernamen geändert)