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Fast 5000 Mädchen und Jungen legen in diesen Tagen ihre Abitur-Prüfungen ab Papier, Patronen, Wasser und kein Stress

Von Oliver Schlicht 11.05.2011, 12:13

Knapp 5000 Mädchen und Jungen durchleben in diesen Tagen die vielleicht aufregendsten Stunden ihres jungen Lebens: Schriftliche Abiturprüfung. Stundenlang allein am Einzeltisch. Zu Beginn wartet ein leeres Blatt, eine Flasche Wasser und die bange Frage: Welche Frage steckt im Umschlag?

Gommern. Lisa Brand öffnet vorsichtig die Tür zum Klassenzimmer. Die Vorsicht ist unnötig. Sie ist die Erste. Früh hat Mama von der Arbeit noch einen Kontrollanruf gemacht, ob sie auch wach ist. Na klar war sie wach. Vor Geschichte hat sie ein bisschen Bammel. Meistens stand da eine 3 auf ihren Zeugnissen. Industrialisierung und soziale Probleme waren nicht so ihr Fall. "Die Nazizeit und die Wiedervereinigung fand ich besser", erzählt sie.

Leere Tische mit Stühlen, jeweils ein halber Meter zwischen den Tischen. In 20 Minuten geht es los. Langsam füllt sich der Raum. Geschichte, Grundkurs. Einlesezeit 30 Minuten, Schreibzeit 210 Minuten. Lisa hat sich einen Platz am Rand des Raumes gesucht. Aufgeregt? Sie zuckt mit den Schultern. "Es ist schon meine dritte Abiprüfung", sagt sie und packt den Schreibkram und die Brotbüchse auf den Tisch.

Acht Uhr. Die beiden Fachlehrer Thomas Fuchs und Joachim Burgold übernehmen die erste Schicht der Prüfungsaufsicht. Sie sitzen vor der Tafel und führen in den nächsten Stunden das Prüfungsprotokoll. Sitzplan, Zeitplan, Abgabezeiten. Gespannt blicken die zehn Mädchen und Jungen nach vorn, acht belegen Geschichte als Leistungskurs, zwei den Grundkurs. Die Ränder auf ihren Blättern sind gezogen (genau drei und vier Zentimeter), die Ersatzpatronen bereitgelegt. Nun gilt ihre volle Aufmerksamkeit Schuldirektor Henry Bouet, der mehrere dicke braune Umschläge in seinen Händen hält. Direktor Bouet stellt noch eine letzte Frage nach dem Wohlbefinden. Alle nicken schweigend, alles in Ordnung. Dann endlich schneidet der Direktor die Umschläge auf. Die Prüfung kann losgehen.

4797 Prüflinge an 97 Schulen

So wie die Schüler des Gymnasiums Gommern sitzen im Moment fast 5000 Jungen und Mädchen hoffnungsvoll in schriftlichen Abiturprüfungen. Nach Angaben des Kultusministeriums legen im Schuljahr 2010/11 genau 4231 an 84 Schulen das Abitur ab. Zusammen mit den Fachgymnasien listet das Kultusministeriums 4797 Abiturprüflinge an 97 Schulen auf. In Sachsen-Anhalt müssen alle Abiturienten schriftliche Prüfungen in Deutsch, Mathematik, einer fortgeführten Fremdsprache sowie in Geschichte oder einer Naturwissenschaft ablegen. Es müssen außerdem zwingend zwei dieser schriftlichen Prüfungen auf erhöhtem Niveau (Leistungsstufe) und die zwei anderen auf grundlegendem Niveau (Grundkurs) geschrieben werden.

Diese Prüfungen finden an allen Schulen gleichzeitig statt, um Betrügereien zu verhindern. Los ging es in der vergangenen Woche mit Deutsch, den Fremdsprachen und Geschichte. In dieser Woche schreiben die Abiturienten ihre Prüfungen in Mathe, den Naturwissenschaften und Kunst oder belegen Sport.

Die Erstellung und Verteilung der Fragen, mit denen sich die Prüflinge beschäftigen müssen, ist eine eigene, kleine Wissenschaft. "Das macht eine Aufgabenkommission, die aus mehreren Fachkommissionen besteht", erzählt Ingrid Lachmund, Sprecherin im Kultusministerium. Sechs Lehrer, darunter zwei Fachbetreuer, sind in den Fachkommissionen. Angeleitet werden diese Kommissionen von einem Vertreter einer Universität und einem Vertreter des Landesinstitutes für Schulqualität und Lehrerbildung.

Alle Prüfungsfragen, die in diesen klugen Runden ausgetüftelt werden, sind zur Sicherheit gleich in dreifacher Ausführung vorhanden: Ein Fragenkatalog für den Hauptprüfungstermin, den Nachtermin und einen als Reservesatz. Schließlich könnte es passieren, dass die Fragen einen Tag vor der Prüfung "durchsickern" und heimlich verbreitet werden.

Am Gymnasium Gommern ist das bislang noch nicht passiert, wie Henry Bouet lächelnd in seinem kleinen Direktorenbüro versichert. "Die Umschläge kommen per Kurier direkt vom Kultusministerium und wandern dann hier sofort in den Panzerschrank", erzählt er. Dort bleiben sie, bis der Direktor sie höchstpersönlich am Morgen der Prüfung herausnimmt und sie vor den Augen der Schüler öffnet. Auch ihn überraschen die Fragen zuweilen.

Aus diesen drei Themenkomplexen mussten die Schüler in diesem Jahr im Grundkurs Geschichte ein Thema auswählen: 1. Eine Quelleninterpretation über die Ansichten eines Unternehmers im 19. Jahrhundert zur wirtschaftlichen Entwicklung im deutschen Kaiserreich. Oder 2. Die Erörterung der Problematik, ob die Oktoberrevolution 1917 heute wert ist, sie zu würdigen oder sie zu vergessen. Und 3. Eine Darstellung des Weges zur deutschen Einheit 1989/90 vor dem Hintergrund der inneren und äußeren Bedingungen.

Qualität der Fragen nicht unumstritten

Bei den beiden Fachlehrern ist die Qualität der Fragen nicht unumstritten. Lehrer Thomas Fuchs: "Im Leistungskurs wird nach einer verhältnismäßig leichten Darstellung der Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus gefragt, ohne mit bestimmten Quellen umgehen zu müssen. Da sind Fragen des Grundkurses deutlich schwerer." So sei die Diskussion über den Stellenwert der Oktoberrevolution alles andere als einfach. Die Interpretation des Briefes eines Unternehmers, der sich mit der Wirtschaft im Kaiserreich auseinandersetzt, habe vom Schwierigkeitsgrad her Universitätsniveau. "Da fragt man sich manchmal schon, wer sich so etwas ausdenkt", so der Lehrer.

Angesichts dieser Meinung verwundert den Außenstehenden, mit welcher konzentrierten Gelassenheit die Prüflinge im Obergeschoss ihre Aufgaben erfüllen. Stress ist kaum spürbar. Es scheint nicht so, als ob die jungen Leute mit völlig anderen, leichteren Aufgaben gerechnet hätten. "Die Oberstufe bereitet die Schüler auf diese Belastung sehr kontinuierlich vor. Die Prüfung ist das letzte I-Tüpfelchen. Da scheitert kaum noch jemand", ist die Erfahrung von Direktor Bouet. Erst im Herbst habe er im Fach Französisch seine Zwölftklässler einen 300-Minuten-Aufsatz schreiben lassen – als Test-Abitur.

Der Jahrgang, der jetzt in Gommern in der Geschichtsprüfung schwitzt, zählte bei der Einschulung am 26. August 2003 genau 54 Schüler. Davon sind jetzt bei der Abiturprüfung noch 23 an Bord. Vier Quereinsteiger ergänzen den Jahrgang auf jetzt 27 Schüler, die an der Abiturprüfung teilnehmen. "Die meisten Schüler verlassen das Gymnasium sehr viel früher", so der Direktor. Nach seiner "Gommeraner Statistik" steigen Jungen bevorzugt in der 7. Klasse und Mädchen in der 8. Klasse aus dem Zug in Richtung Abitur aus. "Und das hat sehr viel mit der Ablenkung durch die Pubertät zu tun", so der Direktor.

Die Absolventenzahlen des vergangenen Schuljahres, die das statistische Landesamt erhebt, geben dem Schulleiter Recht. In der Oberstufe (10. bis 12. Klasse) legen in Sachsen-Anhalt durchschnittlich 90 Prozent (Grafik) am Ende auch ein Abitur ab. Die anderen Schüler erreichen entweder einen erweiterten Realschulabschluss (10. Klasse) oder können mit der absolvierten 11. Klasse und einem Praktikumsjahr die Fachhochschulreife bekommen. Wer sich bis zur Abiturprüfung vorgekämpft hat, legt in der Regel das Abitur auch erfolgreich ab.

Frische Luft nach den Prüfungsstunden

12 Uhr. Im Prüfungsraum oben unter dem Dach haben die beiden Grundkursprüflinge, Dana Engel und Lisa Brand, den Klassenraum bereits verlassen. Draußen im Schatten auf dem Schulhof tanken die erschöpften Mädchen erst einmal frische Luft. Wie ist es gelaufen? Lisa, die mit dem Fach Geschichte ein bisschen hadert, ist trotzdem ganz zufrieden. "Ich habe über die Wende in der DDR geschrieben. Das hatten wir gerade im Unterricht."

Auch Dana ist mit der Prüfung ganz zufrieden – mit der Geschichtsprüfung. "Bei der Polizei hatte ich gerade einen Bewerbungstermin. Da haben sie mir gesagt, dass ich mit 1.58 Meter leider fünf Zentimeter zu klein bin", erzählt sie. Dabei wollte sie doch so gern zur Polizei. Nun will sie erst einmal ihr Zeugnis abwarten, wie der Durchschnitt wird. "Mal sehen. Vielleicht studiere ich eine Wirtschaftsrichtung oder auf Lehramt", ist sie noch unsicher. Auch Lisa weiß noch nicht so recht, wohin die Reise beruflich geht. "Vielleicht etwas mit Kindern und mit Musik. Ich spiele Klavier und Gitarre."

In vier Wochen erfahren Dana, Lisa und die anderen Abitur-Prüflinge ihre Ergebnisse. Dann entscheidet sich, welche mündlichen Prüfungen im Juni auf sie warten. Ein paar Wochen Stress liegt also noch vor ihnen.