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Volksstimmegespräch mit Gerhard Jost vom Landesamt für Geologie und Bergbau "Diese Kombination von Phänomenen ist neu"

23.07.2009, 05:01

Seit dem Erdrutsch in Nachterstedt kontrolliert Gerhard Jost, Bergbauingenieur und Dezernatsleiter im Landesamt für Geologie und Bergwesen, täglich vor Ort an der Unglücksstelle neue Bewegungen des Erdreichs. Im Volksstimmegespräch erklärt er Redakteurin Caroline Vongries, warum nach Nachterstedt der Umgang mit Bergbauaktivitäten und stillgelegten Schächten völlig neu bewertet werden muss.

Volksstimme : Nicht nur der Salzlandkreis, in dem der von dem beispiellosen Erdrutsch betroffene Ort Nachterstedt liegt, ist eine von Bergbau geprägte Region, das ganze Land Sachsen-Anhalt ist es. Kann man das an Zahlen, zum Beispiel an Flächen, festmachen ?

Gerhard Jost : An Flächen nicht unbedingt, der Untertagebau fällt in diesem Fall kaum oder gar nicht ins Gewicht. Mit deutlich mehr als 5000 Menschen, die noch heute im Bergbausektor beschäftigt sind, liegt Sachsen-Anhalt bundesweit an dritter Stelle. Aktiven Braunkohletagebau, wie bis 1991 in Nachterstedt, betreiben wir zurzeit im Süden Sachsen-Anhalts, in Profen ( bei Zeitz ).

Volksstimme : Vor der Wende und in früheren Zeiten waren es noch wesentlich mehr Bergarbeiter.

Jost : Erheblich. Nicht nur der Salzlandkreis, ganz Mitteldeutschland ist eine historische Bergbauregion. Vor 800 bis 1000 Jahren begann das mit Kupferschiefer und Erzen. 1800 bis 1820 hat man Braunkohle untertage abgebaut, danach folgte vor allem die Gewinnung im Tagebau. Sole und Salzförderung, die dem Salzlandkreis seinen Namen gegeben haben, gab es über Jahrhunderte nicht nur in Schönebeck und Staßfurt, Bernburg. Heute haben wir in den dadurch entstandenen Hohlräumen weiträumig Erdgaskavernen untergebracht. In Staßfurt wurde 1852 im Zuge der Industrialisierung bekanntlich der erste Kalibergschacht getauft, damals unter preußischer Regierung. Noch heute werden im Norden Sachsen-Anhalts in Zielitz Kalibergschächte, im Süden in Teutschenthal Sanierungsbergbau betrieben. Braunkohletagebau gab es hier im Salzlandkreis vor allem in Königsaue / Nachterstedt, aber bis 1906 auch in Neugattersleben bei Bernburg. Auch der Löderburger See bei Staßfurt ist wie weitere heutige Badeseen ein Tagebaurestloch. Abgebaut wurde im Salzlandkreis auch in Calbe, in der Egelner Mulde. Im Norden Sachsen-Anhalts spielt noch das heutige Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben, einst ein Kalischacht, eine Rolle.

Volksstimme : Die Tradition gerade im Salzlandkreis ist bekannt. Seit dem Wochenende machen sich nicht nur dort die Menschen Gedanken, wie fest der Boden tatsächlich ist, auf dem sie stehen.
Jost : Man kann die Verhältnisse von Nachterstedt sicherlich nicht 1 : 1 auf andere Gebiete übertragen. Erstens handelt es sich nicht überall um Braunkohletagebau. Außerdem finden wir überall andere geologische Gegebenheiten vor.

Volksstimme : Dennoch gibt es bereits Stimmen aus der Fachwelt, die warnen und zum Beispiel eine Risikokartierung für ganz Deutschland fordern. Was sagen Sie ? Kann man nach Nachterstedt weitermachen wie bisher oder muss man den bisherigen Umgang mit dem Bergbau ganz neu bewerten ?

" Ich halte ein Umdenken für erforderlich "

Jost : Diese Frage beantworte ich ganz klar mit Ja. Ich halte ein Umdenken für unbedingt erforderlich. Vor allem wie bereits gesagt bei der Bewertung des Braunkohletagebaus. Schon deshalb, weil sich die Bergbauexperten selbst das Ereignis von Nachterstedt bisher weder erklären können, geschweige denn, es vorausgesehen haben. Bis wir die Ursachen wirklich benennen können, müssen allerdings noch eine Reihe von Untersuchungen angestellt werden. Die LMBV hat Gutachten in Auftrag gegeben. Wir als Landesbergamt sind unsererseits dabei, eigene Spezialisten zu beauftragen, die wir vor allem in Nordrhein-Westfalen finden. Sie können sicher sein : Es kommen für uns nur von der LMBV völlig unabhängige Experten infrage.

Volksstimme : Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft. Wie lange wird es dauern bis wir Ergebnisse haben ?
Jost : Mit Sicherheit mehrere Monate. Die Untersuchungen können sich bis zu einem Jahr hinziehen. Die Gutachter werden erst meterweise Akten verschlingen und Millionen von Daten verarbeiten müssen. Denn sie haben vor allem ein Problem : Sie kennen sich in ihrem Fachgebiet sehr gut aus, doch die Gegebenheiten vor Ort müssen sie sich erst erschließen.

Volksstimme : Noch einmal zurück zur Frage nach einem veränderten Umgang mit dem Bergbau ...

Jost : Ohne dass wir Spekulationen über die Unglücksursache von Nachterstedt Tür und Tor öffnen : Der Vorgang ist bisher einzigartig. Wie beim Unglück 1959 am gleichen Ort beobachten wir einerseits ein klassisches Setzungsfließen, Erdmassen stürzen bis zu 400 Meter ins Wasser. Im Böschungsbereich allerdings sind trockene Brüche zu verzeichnen, auch mehrere Staffelbrüche. In Nachterstedt haben wir also eine Kombination von Phänomenen, mit der wir es bisher in Praxis und Forschung noch nicht zu tun hatten. Deshalb hat Nachterstedt auch die Fachwelt aufgerüttelt.

Volksstimme : Wo sehen Sie, auch als Kontrollbehörde, die Notwendigkeit von Konsequenzen ?
Jost : An vielen Stellen. Natürlich im aktiven Bergbau. Wir müssen hier in Sachsen-Anhalt dringend untersuchen, ob weitere Standorte ähnliche Gegebenheiten wie Nachterstedt aufweisen. Vordringlich dort, wo es in unmittelbarer Nähe sensible Nutzungen gibt : Straßen, Wohnsiedlungen. Dasselbe gilt für inaktive Flächen. Auf dem Prüfstand steht jetzt die touristische Nutzung, gerade dann, wenn sie bereits parallel zur Flutung alter Bergbauflächen erfolgt. Bislang war die touristische Nutzung, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, von allen Akteuren hier im Land gewollt, das möchte ich betonen. Doch jetzt muss man dies hinterfragen. Wechselnde Lasten auf der Uferböschung bergen offenbar bisher unbekannte Risiken. Auch das lehrt Nachterstedt.

Volksstimme : Können Sie uns das Phänomen wechselnder Lasten näher erklären ?
Jost : An sich raten Experten zu einer schnellen Flutung, weil mit ansteigendem Wasserspiegel im neu sich bildenden Gewässer ein Druck von innen nach außen entsteht, der auf die Böschung stabilisierend wirkt. Doch wenn, wie in Nachterstedt, im Gebiet um den See gleichzeitig der Grundwasserspiegel steigt, drückt das Wasser auch in umgekehrte Richtung. Der Böschungsbereich ist den wechselnden hydraulischen Verhältnissen ausgesetzt und reagiert in nicht vorhersehbarer Weise. Selbstverständlich wurden diese Gegebenheiten bei den Planungen für den Concordiasee berücksichtigt. Nach dem damaligen Stand von Wissenschaft und Technik war das auch in Ordnung. Doch nach der Havarie vom Wochenende ist der Stand nicht mehr derselbe. Das gilt gegebenenfalls auch für andere geflutete Gebiete, die Goitzsche, das Geiseltal. Wir werden prüfen müssen, ob und wann es weiterhin zulässig ist, während einer Tagebauflutung bereits touristische Nutzung zu erlauben.

Volksstimme : Können Sie uns kurz sagen, wie sich der Wasserstand in Nachterstedt verändert hat und was weiter geplant war.
Jost : Wir sind jetzt bei 87 Metern über Normalnull angekommen, geplant waren 103 Meter. Ausgangspunkt der Flutungen waren 40 bis 50 Meter. Es gibt noch etwas : Wir müssen uns auch um die Halden kümmern. Davon gibt es zwischen 200 und 300 in ganz Sachsen Anhalt. Darunter recht große, die entweder landwirtschaftlich bewirtschaftet oder aber als markante landschaftliche Erhebungen touristisch genutzt werden. Eins steht fest : Auf uns wird jede Menge Arbeit zukommen.

Volksstimme : Wie lange können solche Prüfungen dauern ?
Jost : Wir brauchen dazu Fachkräfte und entsprechende Haushaltsmittel. Das Bergamt ist immer wieder präventiv tätig geworden. Gerade in Staßfurt haben wir erst im vergangenen Jahr Schächte überprüft.

Volksstimme : Warum halten Sie nur den veränderten Umgang mit Braunkohletagebau für notwendig. Ist ehemaliger Salzbergbau denn sicherer ? Gerade die Staßfurter, deren Stadt beständig absinkt, sind doch sehr besorgt.
Jost : Tagesschächte aus dem Untertagebau wie in Staßfurt sind zu dem Zeitpunkt besonders risikobehaftet, an dem eine Flutung stattfindet, ob diese gezielt in die Wege geleitet wird oder wie in Staßfurt der Schacht wild absäuft. In diesem Moment besteht ein erhöhtes Bruch- und Senkungsrisiko. Zudem macht es einen Unterschied, ob lockeres oder festes Gestein abgebaut wird. In Staßfurt können wir nach unseren Untersuchungen ernsthafte Bruchgefährdungen heute weitgehend ausschließen. Absenken wird sich das Gebiet allerdings geringfügig auch weiterhin.

Volksstimme : Wie sieht das im Umfeld von Bernburg aus ? Dort soll in Ilberstedt noch weiter in den Untertagebau investiert werden, schon heute sind die Anwohner erschrocken über Risse in ihren Häusern ...
Jost : Die Planungen liegen uns vor. Die Senkungserscheinungen, die jetzt bereits zu beobachten sind, liegen in einer Größenordnung, über die man tatsächlich nachdenken muss. Sie sind deutlich stärker als die Prognosen, die vor einigen Jahren gemacht wurden.

Volksstimme : Auch in anderen Bundesländern ist man alarmiert durch das Unglück in Nachterstedt. Wie stehen Sie in Austausch mit Ihren Kollegen ?

Jost : Allein am Wochenende hatte ich weit mehr als hundert Anrufe, viele Kollegen haben nachgefragt, die meisten sind besorgt.

Volksstimme : Bei aller Ihnen gebotenen Sachlichkeit : Ist man jetzt aufgestört, bewertet man anders ?
Jost : Alter Bergbau schläft immer einige Zeit, dann regt er sich. Bei uns Menschen gibt es eine Mentalität, wenn sich über einen längeren Zeitraum nichts tut, nimmt man das als Zeichen, dass man weiter machen kann wie bisher. Das geht nicht mehr.

Volksstimme : Noch eine Frage nach den Kosten. Sollten nicht diejenigen, die über Jahre vom Bergbau profitiert haben, auch finanziell stärker zur Verantwortung gezogen werden ?
Jost : Sicher. Doch gerade im Kalibergbau sind die Verursacher oft nicht mehr greifbar. Es gibt keine Rechtsnachfolger und auch der Staat, der hier einspringt, hat die Risiken nicht verschuldet.

" Es wird Monate dauern, bis hier wieder Ruhe einkehrt "

Dennoch sehe ich nach dem Subsidiaritätsprinzip den Staat hier in der Pflicht. Ein einzelner Grundstückseigentümer könnte die Kosten nicht schultern. Heutzutage sorgt allerdings das Bergbaurecht dafür, dass Firmen strengere Auf agen erfüllen müssen, wenn sie ein Bergbaugebiet abschließen wollen. Früher war das anders.

Volksstimme : Ein abschließende Frage noch zu Nachterstedt : Wie ist dort der Stand ?
Jost : Wir haben schon vor den Regengüssen eine ganze Reihe von Rissen in Gebäuden aber auch auffällige Stellen im Erdreich beobachtet und dokumentiert. Ich rechne mit weiteren Rutschen im abgesperrten Bereich. Außerhalb dessen sind die Menschen sicher. Das Ereignis ist beispiellos. Es wird Wochen und Monate dauern, bis hier im Erdreich wieder Ruhe einkehrt.