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SDP-Gründung Die doppelte Provokation

Zwei Kartons mit Dokumenten sind Joachim Kähler von den ersten
Gehversuchen in der Politik geblieben - und jede Menge Erinnerungen.
Heute ist der 55-Jährige Pfarrer der Stendaler Stadtgemeinde. Vor 25
Jahren wurde in seinem Pfarrhaus in Schwante bei Berlin die
Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) gegründet.

07.10.2014, 01:25

Stendal l "Das war keine Sache, die innerhalb von Tagen oder Wochen zustande gekommen ist", blickt Joachim Kähler zurück. "Daran wurde über Jahre gearbeitet."

In kleinen Diskussionszirkeln, die meist von Theologen geprägt waren, reifte der Plan. Ökologisch orientiert, sozial ausgerichtet und demokratisch sollte sie sein. "Sehr viele von uns wollten einen verbesserten Sozialismus, eine gerechtere Gesellschaft. So wie das schwedische Modell."

Die treibenden Kräfte, seine Pfarrerskollegen Martin Gutzeit und Markus Meckel, kennt Kähler schon seit Jahren, als im Herbst 1989 aus den schon lange gehegten Plänen endlich Wirklichkeit werden sollte. "Es muss Ende September gewesen sein, als ich Martin Gutzeit gesagt habe, wir könnten die Gründung doch bei mir machen."

In seinem Pfarrhaus ist genug Platz. 40 Kilometer nordwestlich von Berlin liegt es zwar abgelegen, ist aber dennoch gut zu erreichen.

"Ich hatte genug Vorräte im Haus."

Die erwarteten 50 Teilnehmer sind für den Gastgeber kein Problem. "Ich hatte genug Vorräte im Haus", erinnert sich Kähler. Brot, Würste, Schmalz, Getränke. "Da musste ich nicht viel einkaufen."

Die Vorbereitung läuft streng konspirativ. Martin Gutzeit fährt in den Tagen zuvor nur über Umwege vom benachbarten Marwitz nach Schwante.

Markus Meckel spricht gezielt Interessanten an, die in den Wochen zuvor bereits Interesse an dem damals kursierenden Gründungsaufruf gezeigt hatten. Den genauen Ort erfahren fast alle Anreisenden erst auf festgelegten Zwischenstopps bei ihrer Anreise. Meckel hatte ihnen noch geraten, die Nacht davor fernab ihres Zuhauses zu verbringen.

Die Vorsicht der Initiatoren hatte ihre Gründe. In den Tagen zuvor waren einige Mitglieder und Sympathisanten des Neuen Forums verhaftet worden. Die Gründungsversammlung des Demokratischen Aufbruchs hatte die Stasi am 1. Oktober noch sprengen können.

Doch bei der SDP-Gründung ist die Staatsmacht zwar gut informiert, aber machtlos. Joachim Kähler ahnt dies schon, als zwei Tage vor dem Treffen sein Telefonanschluss plötzlich tot ist.

Die Anspannung ist enorm. Am Freitag klingelt es an der Tür des Pfarrhauses - ein von Pfarrerskollege und SDP-Mitbegründer Konrad Elmer geschickter Bote bringt einen ganzen Stapel hektografierter Papiere. Kähler versteckt sie im Kohlenschuppen.

"Die Stasi wusste, dass sie die Gründung nicht verhindern konnte, selbst wenn sie die Veranstaltung gesprengt hätte", ist er überzeugt. Mit ihrem Informellen Mitarbeiter Ibrahim Böhme hatten sie ohnehin einen direkten Zugang - aber das wusste am 7. Oktober keiner im Pfarrhaus von Schwante. Allenfalls dürften es einige geahnt haben. "Der Böhme war damals bestimmt verkabelt", vermutet Kähler inzwischen.

Den Gastgeber plagen in den Stunden noch andere Sorgen. Seine Zahnschmerzen, verursacht durch einen vereiterten Weisheitszahn, können auch die beiden Zahnärzte unter den SDP-Gründern nicht lindern. Der Hausherr läuft den ganzen Tag mit Eisbeuteln an seiner Wange umher.

Die Gründung wird gefilmt und über Mittelsmänner einem ARD-Team übergeben. Für jene, die noch nicht abgereist waren, wurde es am Abend im Pfarrhaus beim Blick auf den Schwarz-Weiß-Fernseher spannend. "Kommen die Bilder jetzt oder nicht. Da sind wir aufgeregt herumgelaufen."

"Der Böhme war damals bestimmt verkabelt."

Die Bilder kamen. Die Nachricht war in der Welt. Wenig später kam über Willy Brandt das Signal, dass die SDP in die Parteifamilie der Sozialistischen Internationale aufgenommen wird. "Nicht jedem in der SPD hat das gefallen", sagt Kähler mit Blick auf die damaligen Annäherungsversuche an die SED. "Wir waren gespannt, aber auch relativ nüchtern", meint er rückblickend. "Uns hat zu sehr bewegt, wie es weitergeht und ob wir etwas erreichen werden."

Eine verschworene Gemeinschaft war und wurde die Gründer-Runde von Schwante allerdings nicht. "Es gab keinen, der alle kannte. Und wir haben uns auch in dieser Konstellation niemals wiedergesehen."

Die wenigsten von ihnen machen anschließend die Politik zu ihrem Beruf. Auch Joachim Kähler steigt nach intensiven Monaten an vorderster Stelle der SDP im Bezirk Potsdam wieder aus und bleibt Pfarrer. "Bei der Volkskammerwahl haben wir in Schwante immerhin ein Ergebnis um die 50 Prozent erzielt", erzählt er nicht ohne Stolz. Dass die junge Partei im März 1990 lediglich enttäuschende 21,9 Prozent erhält, war da für ihn keine Überraschung mehr. "Wenn man darüber nachdenkt, ist es klar. Es wurden die gewählt, die die Macht in den Händen hatten - auch aus Sicherheit."

Zwei Kartons mit Dokumenten aus der damaligen Zeit erinnern ihn noch an die bewegten Monate der Wendezeit, in denen sich so vieles bewegt hat.

Von der Gründungsversammlung bleibt im Schwanter Pfarrhaus nicht viel zurück. Nur ein Kleidungsstück findet der Pfarrer beim Aufräumen - eine rote Socke. "Ausgerechnet." Kähler schmunzelt.

Willy Brandt kommt im März 1990 auf einer Wahlkampfetappe für einen Kurzbesuch vorbei. Der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel nimmt sich später einmal länger Zeit und fährt 1991 extra in den kleinen Ort. Da sitzt Joachim Kähler bereits buchstäblich schon auf gepackten Kisten auf dem Sprung zu seiner nächsten Pfarrstelle.

"Das gab es von uns als Geburtstagsgeschenk."

An das historische Ereignis erinnert heute eine unscheinbare Schiefertafel mit folgender Aufschrift: "Am 7. Oktober 1989 wurde in diesem Haus von 43 Frauen u. Männern die Sozialdemokratische Partei wiedergegründet. Am 40. Jahrestag der wenig später untergehenden DDR endete damit die 43 Jahre währende Zwangsunterbrechung sozialdemokratischer Arbeit in Ostdeutschland."

Joachim Kähler bezeichnet den 7. Oktober 1989 in seinem Pfarrhaus als "eine bewusste doppelte Provokation" gegenüber dem SED-Staat. Mit der Gründung der SDP "haben wir die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in Frage gestellt": "Das gab es von uns als Geburtstagsgeschenk zum 40. Jahrestag der DDR."