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Domprediger Giselher Quast Als die SED in die Knie ging

08.10.2014, 01:06

Mit Kerzen in der Hand gegen schlagstock-bewaffnete Polizisten: Der Erfolg gewaltloser Demonstranten bewegt Domprediger Giselher Quast bis heute. Im Interview mit Hagen Eichler erzählt der Theologe auch, woran die Revolutionäre anschließend scheiterten.

Volksstimme: Herr Quast, erinnern Sie sich an den Moment, als Sie 1989 zum ersten Mal ohne Erlaubnis des Staates demonstriert haben?
Giselher Quast: Das war ein irres Gefühl. Wir sind nach dem Montagsgebet am 23. Oktober aus dem Dom gekommen. Es war gespenstisch dunkel. Es war lautlos, weil wir verhindern wollten, dass Sprechchöre aggressive Stimmung machen. Und dann sind wir nicht auf dem Fußweg gegangen, sondern haben unseren Fuß als demonstrierende Bürger auf die Straße gesetzt.

Das war die erste Montagsdemonstration in Magdeburg. Allerdings sind schon vorher Oppositionelle auf die Straße gegangen.
Schon im Sommer 89 gab es Schweigemärsche zum Rathaus, immer nach den Friedensgebeten im Dom am Donnerstag. Unter den Teilnehmern waren viele Ausreisewillige. Sie nannten das "Spaziergänge", eine Demo wäre ja eine staatsfeindliche Zusammenrottung gewesen, das war strafbar. Der Breite Weg stand im Sommer 89 jeden Donnerstag am späten Nachmittag voller Polizisten und Mannschaftswagen. Man merkte: Da spitzte sich etwas zu.

Warum wurde dann nicht der Donnerstag zum Termin für die Massendemos?
Am 14. September hat eine Gruppe von 20 engagierten Leuten aus der Domgemeinde beschlossen, dass wir zusätzlich zum Donnerstagstermin am Barlach-Denkmal ein Montagsgebet einführen wollen. Donnerstags trafen sich nur noch die Menschen, die die DDR verlassen wollten. Das neue Gebet war gedacht für diejenigen, die hierbleiben wollten. Das Interessante ist, dass fast überall in der DDR ohne Absprache solche Gebete erfunden wurden, alle montags -- wahrscheinlich aus dem pragmatischen Grund, dass Pfarrer am Montag "frei" haben und deshalb dieser Termin nicht besetzt war.

Wie hat die Staatsmacht reagiert?
Ich wusste, dass meine Predigten mitgeschrieben werden, meine Briefe und Telefonate kontrolliert werden. Die Stasi kam an mich aber nicht so heran wie an einen Ingenieur in einem Betrieb. Sie konnte mein Gehalt nicht kürzen, sie konnte mich nicht auf eine andere Stelle versetzen. Insofern hatte ich eine Narrenfreiheit, wenngleich eine gefährdete. Ich weiß heute, dass es eine interne Liste gab, wer im Fall eines Bürgerkrieges zuerst zu verhaften wäre. Da standen Hans-Jochen Tschiche und ich an erster Stelle.

Welche Reformen brauchte die DDR aus Ihrer damaligen Sicht am dringendsten?
Mein erstes Ziel war nicht, politische Forderungen zu stellen. Mir war es wichtig, dass die Kirche ein Freiraum für Menschen war, in dem sie sich artikulieren konnten. Viele DDR-Bürger lebten zweigesichtig. Sie sagten in der Schule und im Betrieb, was die Gegenseite hören wollte, und sie sagten zu Hause hinter vorgehaltener Hand ihre Meinung, von der sie glaubten, dass es ihre wahre Meinung wäre. Dass dieses heuchlerische Gesicht nach außen aber auch ein Teil ihres wahren Ichs war, haben sie ignoriert. Als die Menschen im Dom anfingen, Fürbitten und politische Diskussionsbeiträge auszusprechen, haben sie zum ersten Mal ihre Zweigesichtigkeit überwunden. Sie trauten sich, vor Hunderten und dann vor Tausenden ihre Meinung zu sagen. Das war ein ungeheuer wichtiger Prozess.

Welche politischen Forderungen standen ganz vorn?
Das haben wir die Menschen erstmals beim Montagsgebet am 2. Oktober gefragt. An der Spitze stand Pressefreiheit. Die Menschen hatten das Gefühl: Wir werden verdummt, keiner sagt uns, was wirklich in diesem Land los ist. Genauso wichtig waren Rede-, Meinungs- und Glaubensfreiheit. Die deutsche Einheit forderte gar keiner, nur ganz wenige die "baldige Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten".

Auch Sie konnten sich ein Ende der DDR nicht vorstellen. Warum nicht?
Ich war immer Opposition. Ich bin von der Schule geflogen, weil ich den Wehrdienst verweigert habe. Allerdings, und das mag man heute kaum noch laut sagen, habe ich immer im Brustton der Überzeugung gesagt: Ich möchte nicht Pfarrer im Westen sein. Ich dachte, wenn man da eine kritische Predigt hält, steht ein Konzern-Aufsichtsrat auf und droht damit, die Kirche zu verlassen. Natürlich bin ich auch geprägt worden von meinem Aufwachsen in einem sozialistischen Land, von der Kapitalismuskritik. Bestimmte Werte von solidarischer Gemeinschaft, die im sozialistischen Ansatz steckten, waren uns als Kirche durchaus sympathisch - allerdings nicht das, was die DDR daraus gemacht hat.

Der 9. Oktober wurde mit der ersten großen Demonstration in Leipzig zum Wendepunkt. Wie haben Sie den Tag in Magdeburg erlebt?
An diesem Montag ging eine ungeheure Hetze durch die Stadt, von der SED gesteuert. In allen Betrieben und Schulen wurde gesagt: Heute Abend treffen sich die finstersten Kräfte der Konterrevolution, es wird Blut fließen, es wird geschossen. Kindern wurde in der Schule gesagt, wenn ihre Eltern am Abend in den Dom gehen, werden sie verhaftet und sie selbst kommen ins Kinderheim.

Und trotzdem gingen die Menschen in den Dom.
Es waren viermal so viele wie in der Woche zuvor. Die Leute kamen mit butterweichen Knien, aber mit aufrechtem Gang. Wir haben die Berichte der Verhafteten und Geschlagenen vom 5. und 7. Oktober vorgelesen. Das machte eine sehr bedrückte, aber auch aggressive Stimmung. Mit den Leuten haben wir durchgesprochen, wie alle sicher nach Hause kommen. Wir haben gesagt: "Singt nicht, ruft nicht, keine Sprechgesänge. Wenn Provokateure von der Stasi zu prügeln anfangen, rückt sofort von ihnen ab." Es sind an dem Abend alle friedlich nach Hause gegangen. Und am Abend sahen wir dann im Fernsehen, dass in Leipzig Tausende demon-striert hatten.

Die erste große Demo in Magdeburg war dann am 23. Oktober.
Wir sind vom Dom aus einmal durch die Innenstadt gezogen. Als wir zurückkamen, stellten wir fest, dass dort gerade die letzten den Dom verließen. So viele waren wir! Da ging ein Gelächter durch die Menge, überrascht und erstaunt. Das war eine ganz große Befreiung. Ab diesem Augenblick wussten wir: Uns kann keiner mehr was.

Bei den Kundgebungen später wurden SED-Vertreter niedergebrüllt und ausgepfiffen. Haben auch Sie diese Wut auf die Staatsmacht empfunden?
Zorn hatte ich schon auf dieses verlogene System, aber kein Gefühl der Aggression. Die wollten mir zwar schaden, aber das alles hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich bin froh, dass mein Leben nicht nur leicht und glatt und oberflächlich verlaufen ist.

Sie haben dazu beigetragen, die DDR zum Einsturz zu bringen. Sind Sie zufrieden mit dem Ergebnis?
Die deutsche Einheit kam auf nicht sehr ehrenvolle Weise zustande. Das war kein fairer Vereinigungsprozess, sondern nur eine Angliederung an etwas Bestehendes. Die Bundesrepublik war so potent, dass sie uns gar nicht gebraucht hat. Deshalb konnte auch alles plattgemacht werden, was hier an Industrie und Landwirtschaft vorhanden war. Ich hätte mir einen besseren Weg gewünscht. Dazu hätten die Menschen in der DDR allerdings jahrelang den Gürtel enger schnallen müssen, um eine eigene Demokratie aufzubauen, und dazu war niemand bereit.

Das wollte niemand, weil ja auch jeder in den Westen gehen konnte.
Die Leute wollten sofort D-Mark und Banane. Irgendwann tauchten große Hochglanzplakate mit dem Motto "Wir sind ein Volk" auf, die mit Sicherheit nicht in der DDR gedruckt worden waren. Die kamen wohl von der CDU-West, die sehr clever in den Prozess eingegriffen hat.

Sie glauben, dass die Revolution übernommen wurde?
Sie ist beeinflusst worden, mindestens.

Sie wirken enttäuscht.
Die größte Enttäuschung war der plumpe Materialismus vieler Menschen hier. Sie hatten wenig Idealismus, haben immer nach dem Westen geschielt. Da hat mir eine Menge geistiger Potenz, Idealismus und Opferbereitschaft gefehlt. Die Menschen, die damals auf die Straße gegangen sind und nicht wussten, ob sie wieder lebend nach Hause kommen, das waren drei Prozent. Damit kann man einen Staat stürzen, aber keinen neuen bauen.