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Geschichte Geschichtsunterricht auf dem Gehweg - Stolpersteine verlegt

Stolpersteine des Künstlers Gunther Demnig sollen Erinnerungen an das Schicksal von NS-Opfern wach halten. In Spremberg und Cottbus werden die kleinen Messingtafeln verlegt. Erlebbare Geschichte für Schüler.

Von Silke Nauschütz, dpa Aktualisiert: 04.10.2023, 17:25
Der Künstler Gunter Demnig verlegt zwei Stolpersteine in Spremberg.
Der Künstler Gunter Demnig verlegt zwei Stolpersteine in Spremberg. Patrick Pleul/dpa

Spremberg - Vor dem Eingang des unscheinbaren Wohnhauses in der Pfortenstraße 13 in Spremberg tummeln sich viele Kinder, einige blicken erwartungsvoll, andere etwas unsicher, die meisten gespannt. Für die beiden Schulklassen gibt es an diesem Mittwoch anschaulichen Geschichtsunterricht. Es werden Stolpersteine verlegt, die an das Schicksal der jüdischen Bewohner Nathan und Ellen Bernfeld, Klara und Salo Jacob und Walter Lehmann erinnern.

Der Künstler Gunther Demnig, der das Projekt Stolpersteine 1992 gestartet hat, lässt die kleinen Messingtafeln an früheren Wohnorten der NS-Opfer in den Gehweg. Fünf Gedenksteine werden es an diesem Tag in Spremberg sein, neun Stolpersteine werden in Cottbus verlegt. „Ich merke, dass das Interesse wächst“, sagt Demnig, der am Vortag in Bautzen, Eisenach und Frankenstein im Harz unterwegs war, um auch dort Gedenksteine zu platzieren. Immer mehr Angehörige, vor allem die Enkel- und Urenkelgeneration, wollten die Geschichten ihrer Familien wissen, sagt der Künstler, der auch mehr Interesse von Angehörigen beobachtet, die in ihrer Familiengeschichte Morde an Menschen mit körperlichen und psychischen Krankheiten während der NS-Zeit entdeckt haben. „Ich denke, es ist eine Generationenfrage“, zeigt sich der Künstler überzeugt.

Stolpersteine werden meist vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern der NS-Opfer eingelassen. In Brandenburg sind bereits mehr als 1100 Stolpersteine verlegt, die an Menschen erinnern sollen, die in der NS-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Mehr als 100.000 der kleinen Messingtafeln wurden in Deutschland und 30 weiteren Ländern Europas verlegt.

Geschichtslehrer Steve Hübschmann ist mit einer siebten Klasse der Berufsorientierenden Oberschule Spremberg (BOS) gekommen. Nach einem rassistischen Vorfall im Klassenchat ist die Verlegung der Steine für ihn ein willkommener Anlass, Geschichte mehr ins Bewusstsein zu rücken. „Rassismus und Antisemitismus ist ein Thema in der Region, auch in Spremberg, auch an unserer Schule“, schildert er. „Wir hatten wieder jüngst einen Vorfall, dass im Klassenchat sowas kursierte.“ Konkret wird der Lehrer nicht. Als Schule habe man gemeinsam mit den Eltern überlegt, wie man dem entgegenwirken könne. Eltern der Schüler hätten sich sofort einverstanden erklärt mit der Teilnahme.

Dass der Vorfall an seiner Schule kein Einzelfall ist, zeigte ein TV-Beitrag des ARD-Magazins „Kontraste“ vom Mai. Darin hatten Schüler an einem Gymnasium in Spremberg von rechtsextremen Vorfällen im Umfeld der Schule berichtet. Im Juni hatten Unbekannte einen Brandanschlag auf eine Kirche in Spremberg verübt, an der eine Regenbogenfahne hing. Der Staatsschutz ermittelt. Im Kreis Spree-Neiße liegt auch Burg, an dessen Schule zwei Lehrkräfte im April anonym geschildert hatten, sie seien täglich mit Rechtsextremismus, Sexismus und Homophobie konfrontiert. Sie waren danach rechten Anfeindungen ausgesetzt. Beide verließen die Schule.

Brandenburgs Kulturministerin Manja Schüle (SPD) richtet ihre Begrüßungsworte dann auch besonders an die Spremberger Schülerinnen und Schüler. Die Stolpersteine für die NS-Opfer und ihre Geschichten dahinter holten Vergessenes und Verdrängtes ans Licht, machten verwischte Spuren sichtbar, so Schüle. Der Anschlag auf die Kirche in Spremberg vom Juni zeige, dass ein moralischer Rückfall überall möglich sei. Chauvinisten würden wieder lauter pöbeln.

Der Künstler Gunther Demnig sorge dafür, dass „wir nicht vergessen“. Er lege „unausweichliche Steine des Anstoßes in die Nachbarschaft“. „Die Stolpersteine legen uns die Toten vor unsere Füße, wir weichen ihnen aus (...) oder wir stolpern über sie, wir verweilen und merken: Wir wandeln in Europa auch auf einem Friedhof“, sagt sie. Es müssten neue Wege gefunden werden, den Holocaust bald ohne Zeitzeugen zu erzählen. Einen solchen zeitlosen Weg pflastere der Künstler Demnig.

Initiiert wurde die Verlegung in Spremberg von der AG Spurensuche der Evangelischen Kirchengemeinden in der Region Spremberg. Pfarrerin Jette Förster erforscht seit etwa zwei Jahren mit einem achtköpfigen ehrenamtlichen Team das Leben jüdischer Menschen in Spremberg sowie von Menschen, die aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kämpften. „Für mich ist besonders, kleine Details aus Biografien zu entdecken, die viel über die Menschen erzählen - Menschen, die nicht anders gehofft und sich für ihr Leben eingesetzt haben als wir heute“, sagte Förster der Deutschen Presse-Agentur. Aufgrund der Forschung der AG habe sich schon ein Angehöriger gemeldet.

Künstler Demnig hat sein Werkzeug bereits wieder eingepackt und ist zum nächsten Ort unterwegs. Auch Vandalismus begleite ihn immer wieder, sagt der Mittsiebziger. Diesen gebe es in Ost und West gleichermaßen. Er selbst sei auch schon einmal betroffen gewesen. „Im Aachener Raum haben sie mir die Nummernschilder abgehebelt, denn da steht www.stolpersteine.eu darauf.“