Kriminalität „Super Recognizerin“: „Da fängt es an im Kopf zu rattern“
Sie haben besonderen Blick für Gesichter. Das hilft, Straftäter auf Videos zu identifizieren. Oder bei Großevents mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen. Berlin nutzt diese Fähigkeiten verstärkt.

Berlin - „Der erste Blick in ein Gesicht - in dem Moment ist eigentlich schon alles passiert“, versucht die Polizeibeamtin zu beschreiben, was in ihrem Kopf abläuft. Sie ist „Super Recognizerin“ und leitet beim Berliner Landeskriminalamt (LKA) das neue Team von Beamtinnen und Beamten, die einen besonderen Blick für Gesichter haben und mit dieser besonderen Fähigkeit die Aufklärung von Straftaten unterstützen.
Anderen Menschen dieses Können zu erklären, sei eine große Herausforderung. „Wir werden ein wenig als Alien betrachtet“, sagt Polizistin Claudia, deren tatsächlichen Namen die Polizei nicht genannt wissen will, um Ermittlungen nicht zu gefährden.
Nach einer rund zweijährigen Probephase sind in Berlin fünf Polizistinnen und Polizisten hauptamtlich in einer eigenen Dienststelle als „Super Recognizer“ tätig. Insgesamt wurden bei einem speziellen Testverfahren 22 Menschen mit der besonderen Fähigkeit identifiziert, wie der stellvertretende LKA-Chef Stefan Redlich berichtet. Auf die Experten könne bei Bedarf - etwa bei Großveranstaltungen - zurückgegriffen werden.
Zu dem Testverfahren eingeladen wurden im Mai 2023 alle rund 18.500 Polizistinnen und Polizisten in Berlin. Etwa 1.500 davon haben es den Angaben zufolge abgeschlossen.
Etwa 1.500 Polizisten beteiligen sich an Test
Das Verfahren wurde von der Neurowissenschaftlerin Meike Ramon von der Bern University of Applied Sciences begleitet. Den Angaben nach handelt es sich um den weltweit einzigen Test mit authentischem Polizeimaterial. „Die Zusammenarbeit der Polizei mit der Wissenschaft hilft dabei, die Fähigkeiten der "Super Recognizer" besser zu verstehen“, erklärt Ann-Cathrin Spranger-Rittmann, stellvertretende Dezernatsleiterin bei der Polizei. Vor allem sei das Testverfahren valide und transparent.
Schon als Kind habe sie festgestellt, dass sie sich Gesichter gut merken könne, schilderte Polizistin Claudia. „Für mich war das aber normal.“ Später haben sich dann nach ihren Angaben die Situationen gehäuft, in denen sie auf Menschen zuging mit den Worten „Wir kennen uns“ - doch ihr Gegenüber dies verneint habe. Dann grübelte Claudia - und irgendwann wusste sie, woher sie das Gesicht kennt: aus der Grundschule etwa oder von einer Hochzeit mit rund 100 Gästen.
„Ein Gesicht, das ich sehe, bleibt im Kopf“, so die Polizistin. Mit zunehmenden Alter und nach rund 30 Jahren bei der Polizei wird damit auch die Möglichkeit, einen Menschen einer Situation oder einer Straftat zuordnen, immer größer. „Da fängt es dann an, im Kopf zu rattern“, schildert Claudia.
Fähigkeit kann nicht erlernt werden
Diese Fähigkeit lasse sich nicht erlernen, sagt Wissenschaftlerin Remon. „Entweder ist man "Super Recognizer" - oder man ist es nicht.“ Möglicherweise sei diese Eigenschaft vererbbar. Erforscht sei dies bisher nicht.
Der Einsatz von „Super Recognizern“ erfolgt in Deutschland erst seit einigen Jahren. Zu den Auslösern gehörten die Übergriffe auf Frauen in Köln auf der Domplatte in der Silvesternacht 2015, so LKA-Vize Redlich. Weil Zweifel an anderen Tests zur Suche nach Polizisten mit den besonderen Fähigkeiten bestanden, habe die Berliner Polizei nach einem wissenschaftlichen Verfahren gesucht. So ist es zu der Zusammenarbeit mit der Neurowissenschaftlerin Ramon gekommen.
Auch andere Bundesländer sind laut LKA-Vize-Chef Redlich an dem Testverfahren interessiert. Da es im Rahmen eines Forschungsprojektes entstand, sei die Weitergabe aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Berlin plane darum eine Neuauflage.
Zahlreiche Anfragen von Ermittlern
Die „Super Recognizer“ werden jeweils von den Kolleginnen und Kollegen um Unterstützung gebeten. Oft geht es darum, Videoaufnahmen von Straftaten auszuwerten und Menschen zu identifizieren. Dies war beispielsweise auch bei den Krawallen am Jahreswechsel 2022/2023 der Fall. Damals sichteten die Experten unter anderem zahlreiche Videos etwa auf Social-Media-Kanälen und führte die Ermittler so auf die Spur von möglichen Verdächtigen.
Zudem können die Experten bei Großveranstaltungen wie etwa der Fußball-EM im vergangenen Jahr in Berlin nach bekannten Gewalttätern Ausschau halten.
Dutzende Anfragen monatlich
Im laufenden Jahr gab es laut Spranger-Rittmann durchschnittlich 82 Aufträge monatlich an die neue Dienststelle. Im vergangenen Jahr waren es 94 Aufträge im Monat.
Technologien wie Künstliche Intelligenz oder Gesichtserkennungssoftware, für deren Einsatz es hohe rechtliche Hürden gibt, begreifen die Berliner „Super Recognizer“ nicht als Konkurrenz. „Das sind ja Ermittler“, betont LKA-Vize Redlich. Ihr Einsatz sei ein Denkanstoß für weitere Ermittlungen. „Das ist absolut keine Konkurrenz“, ergänzt Claudia.