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Geschichte Vor 50 Jahren in Erfurt: Algerier durch die Stadt gehetzt

Ein rassistischer Mob jagt algerische Arbeitsmigranten, einige werden krankenhausreif verprügelt - geschehen im August 1975 in Erfurt. Zum antifaschistischen Selbstbild der DDR passte das nicht.

Von dpa 05.08.2025, 04:00
Das Gebäude der Hauptpost am Anger in Erfurt, wo sich im August 1975 die wohl ersten massiven rassistisch motivierten Ausschreitungen nach 1945 in Deutschland abspielten.
Das Gebäude der Hauptpost am Anger in Erfurt, wo sich im August 1975 die wohl ersten massiven rassistisch motivierten Ausschreitungen nach 1945 in Deutschland abspielten. Martin Schutt/dpa

Erfurt - Im August 1975 wurde die heutige thüringische Landeshauptstadt Erfurt von rassistischen Ausschreitungen erschüttert: 300 junge Erfurter jagten 25 algerische Vertragsarbeiter durch die Innenstadt und prügelten einige von ihnen krankenhausreif. 50 Jahre danach sollen mehrere Gedenkveranstaltungen an die Ereignisse erinnern, die Forschungen zufolge als die ersten massiven rassistisch motivierten Ausschreitungen nach 1945 in Deutschland gelten - und doch in der Öffentlichkeit bislang wenig bekannt sind.

Drei Tage Ausschreitungen

Die Ausschreitungen in Erfurt dauerten drei Tage - vom 10. bis 13. August 1975. Nach der ersten Hetzjagd kam es zu weiteren Angriffen auf die Algerier, die als Arbeiter für mehrere Erfurter Betriebe angeheuert worden waren. Ausgelöst wurden sie durch frei erfundene Behauptungen über angebliche Vergewaltigungen und rassistische Gerüchte, die in Erfurt kursierten. 

Infolge der Übergriffe ermittelten die Sicherheitsbehörden der DDR. Nach Angaben des Historikers Harry Waibel wurden etwa zwei Dutzend Ermittlungsverfahren gegen Erfurter eingeleitet, die mutmaßlich an der Gewalt gegenüber den Algeriern beteiligt waren. Schließlich wurden dann fünf von ihnen als „Rädelsführer und Rowdys“ gerichtlich zur Verantwortung gezogen, wie es in einem von Waibel verfassten Heft zu den Ausschreitungen heißt, das von der Landeszentrale für politische Bildung 2024 veröffentlicht worden war. „Es stellte sich heraus, dass sie bereits zuvor mit Gesetzen in Konflikt gekommen waren.“

Rassismus und Rechtsextremismus überdauerte

Aus Sicht der Historikerin Annegret Schüle, die in Erfurt den Erinnerungsort Topf & Söhne leitet, zeigen die Ausschreitungen, dass auch in der DDR - die sich offiziell dem Antifaschismus und der Völkerfreundschaft verschrieben hatte - Rassismus und Rechtsextremismus das Ende des Nationalsozialismus überdauert hatten. Dass es die Ausschreitungen in dieser Größe in Erfurt gab, sei vermutlich ein Zufall gewesen. „Das hätte auch in anderen Orten passieren können.“ Sie verweist auf ähnliche Ausschreitungen nach dem Ende der DDR in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen.

In der DDR unter der Decke gehalten

Den Grund dafür, dass die sich in aller Öffentlichkeit abspielenden Ausschreitungen von Erfurt so lange unter dem Radar blieben, sieht Schüle darin, dass sie von den offiziellen DDR-Stellen unter der Decke gehalten wurden. Die DDR-Staatssicherheit habe die Übergriffe zwar sehr genau protokolliert, verhinderte aber, dass darüber in der DDR gesprochen wurde. „Denn dass es Rassismus auch in der DDR gab, war ja ein Tabu, das bis heute nachwirkt.“ Es habe maßgeblich dazu beigetragen, dass es in Ostdeutschland nie zu einer umfassenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Rassismus in der Gesellschaft gekommen sei. Heute begünstige dies den hohen Zuspruch für rechtsextreme und rassistische Einstellungen in Ostdeutschland.

In der DDR waren zwischen 1974 und 1984 mehr als 8.000 algerische Arbeitsmigranten tätig, wie die Universität Erfurt erforscht hat. Geregelt wurde das durch ein Abkommen zwischen der DDR und Algerien. Ähnliche staatliche Abkommen, die den Einsatz von ausländischen Vertragsarbeitern regelten, gab es unter anderem auch mit Vietnam und Angola.

DDR-Vertragsarbeiter wurden von Bevölkerung abgeschottet

Eine bewusste Integration der Vertragsarbeiter, die den Arbeitskräftemangel in der DDR beheben sollten, habe es allerdings nicht gegeben, so Schüle. Zwar sei es zu vielen Kontakte am Arbeitsplatz zwischen DDR-Bürgern und den Vertragsarbeitern gekommen. Aber die Arbeitsmigranten seien gezielt in Wohnheimen untergebracht worden und es sei klar gewesen, dass sie nicht dauerhafter Teil der DDR-Gesellschaft werden sollten. „Überhaupt wurde ihnen mit einem geradezu paternalistischen Gestus gegenübergetreten.“

Die Forschung zu den Übergriffen von Erfurt hat erst in den vergangenen Jahren eingesetzt. Im vergangenen Jahr erschien dazu bei der Landeszentrale für politische Bildung eine kleine Publikation. An der Universität Erfurt gibt es ein eigenes Forschungsprojekt dazu.

Die Veranstaltungen zum Gedenken an die Ausschreitungen - ein Gedenken auf dem Domplatz am 10. August, eine Podiumsdiskussion und eine Gesprächsrunde am 11. August im Erfurter Rathaus - richten nach Angaben der Stadtverwaltung Erfurt die Universität Erfurt, die Landeszentrale für politische Bildung, der Erinnerungsort Topf & Söhne sowie der Verein „Migranetz Thüringen“ gemeinsam aus. Zu der Gesprächsrunde werden auch drei ehemalige Vertragsarbeiter erwartet.