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Urban Gardening Vom Wunsch, die Seele zu begrünen

Woher kommt die Sehnsucht nach kleinen Gärten in großen Städten? Dieser Frage gehen wir nach - im Interview mit Prof. Hilarion G. Petzold.

Von Blanche Radom 13.04.2018, 23:01

Magdeburg l Statt am Wochenende in Kinos, Kaufhäuser oder Cafés zu gehen, zieht es immer mehr Großstädter in den Garten. Sie säen, ernten, kochen, bauen, halten Hühner und Bienen und bringen sich gegenseitig handwerkliches Wissen bei. Sind wir etwa auf der Suche nach einem Refugium für unser erschöpftes Selbst? Blanche Radom hat mit Prof. Hilarion G. Petzold, Psychologe und Gründer der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit in Hückeswagen, darüber gesprochen.

Warum diese Lust am Gärtnern, Prof. Dr. Petzold?

Hilarion Petzold: Wir leben zunehmend in Städten, die immer weiter verstädtern. Immer mehr Menschen spüren die dadurch bedingte Naturferne. Sie spüren, es fehlt ihnen ein wichtiger Aspekt ihres Seins. Und das ist nicht verwunderlich, denn als Menschen sind wir ein Teil der Natur. Unsere biologische Ausstattung, die in Millionen von Jahren evolutionär herausgebildet wurde, macht es, dass wir eigentlich eine tiefe Ausrichtung auf die Natur haben. Und so suchen die Menschen danach, insbesondere in den großen Städten.

Das bedeutet, in der Natur zu sein, ist in uns veranlagt. Man könnte im Stadtpark oder Botanischen Garten spazieren gehen.

Ja, schon. Doch es ist ebenso in uns veranlagt, dass wir die Natur nicht nur erleben, sondern sie auch gestalten wollen. Das ist einer unserer menschlichen Grundantriebe. Zum einen haben wir den Antrieb zur explorativen Neugierde, also zum Suchen: Wir gehen in die Natur und suchen etwas, etwa Früchte, Pilze, Stöcke, Steine. Diese Fundstücke möchten wir nach Hause bringen und gestalten. Denn unser zweiter wichtiger Antrieb ist der Gestaltungsantrieb: Wir wollen etwas tun! Unsere Hände sind dafür gemacht, etwas zu greifen, zu halten, zu formen, zu bearbeiten.

In einer städtischen Umgebung – auch im Stadtpark oder Botanischen Garten – ist es uns nur eingeschränkt möglich, mit allem Ausdrucksvermögen zu gestalten und mit allem Sinnesvermögen wahrzunehmen. Gärten jedoch bieten diese Möglichkeit. Wenn man sich diese anschaut, sieht man auch, wie viel Kreativität und Engagement die Menschen in einen Garten hineinstecken können. Und überall, wo sich der Mensch engagiert, wo er mit dem Herzen dabei ist, entsteht so etwas wie Sinn. Lebenssinn. In der Natur etwas zu tun, zu gestalten und erleben fördert den Lebenssinn. Sinnlosigkeit dagegen ist auch ein Weg in die Krankheit.

Tief in unserem Inneren sind wir also nicht nur Naturentdecker, sondern auch Naturgestalter. Was macht es mit uns, wenn wir diesen Ur-Bedürfnissen nachgeben?

Wenn wir uns wirklich auf die Natur einlassen, sind wir auch wieder näher bei uns selbst, weil wir ein Teil der Natur sind. Wir sind Spiegel unserer jeweiligen Umgebung. Da die Natur- oder Gartenumgebung nicht monoton ist, sondern sich beständig ändert – mit Wind und Wetter, mit dem Zug der Wolken, mit den Lichtverhältnissen – ist es ein beruhigtes Fließen, in dem wir uns in dem Moment befinden. Und dieses Fließen (Flow) entspricht eigentlich der Art und Weise, wie wir über Jahrmillionen in der Natur gelebt haben.

Der Garten bietet die Möglichkeit, wieder zu uns selbst zu kommen. Und kann er damit ein Gegenpol zum allgegenwärtigen Aufmerksamkeitsund Gegenwartsverlust, zu Multitasking, zur Beschleunigung und Zeitverdichtung sein?

All das. Und noch viel mehr. Der Garten ist nicht von der digitalisierten Zeit, nicht von der „Zeit der Zeitmesser" bestimmt, sondern von der Zeit der Natur, also den Biorhythmen der Pflanzen und den jahreszeitlichen Rhythmen. Und das bietet die Möglichkeit, Zeit etwas langsamer takten zu lassen.

Wenn es denn gelingt. Denn es gibt ja auch Menschen, die im Garten hochgetaktet arbeiten – alles muss stimmen, alles muss akkurat sein. Und dann ist es nicht viel anders als im Beruf.

Richtig. Doch wenn es uns gelingt, uns von der Natur im Garten ansprechen zu lassen und sie mit allen Sinnen zu erleben – die Erde zwischen unseren Fingern spüren, das Wetter, die Tageszeiten, die Pflanzen und Tiere – dann kann der Körper wieder zu seinen natürlichen Rhythmen finden, und Zuwendungshormone (Oxytocin) werden ausgeschüttet. Weiterhin vermögen uns die Düfte des Gartens in einer Weise anzusprechen, die uns beruhigt und unsere sogenannte Stressachse – die bei vielen Menschen chronisch aufgeschaukelt ist – herunterreguliert. Wir kommen in einen Zustand des „Seele baumeln lassen“: Es ist uns möglich, unsere Gedanken und die ruhigen, die sanften Gefühle fließen zu lassen, also nicht die Aufgeregtheit, nicht den Zorn, nicht die Angst, sondern Gefühle wie Gelassenheit oder Heiterkeit des Gemütes. Das sind sehr gesunde Gefühle, weil sie nachweislich den Blutdruck senken, zu einer vertieften Atmung führen und damit zu einer positiven Gesamtregulation unseres Organismus beitragen.

Wenn der Körper gesund ist, die Versorgung des Gehirns und unsere inneren Systeme gut sind, dann ist auch unsere Gefühlslage in Ordnung und das Denken frisch, denn das Seelische und Geistige sind rückgebunden an einen gut funktionierenden Körper. Übrigens, auch der Kommunikationsfluss der Menschen ist im Garten nicht hektisch, nicht überstresst und überschleunigt, sondern so, dass man sich wechselseitig erreicht. Und im wechselseitigen Erreichen erreicht man auch sich selbst.

Gehört der Rückzug in kleine Gärten demnach zu den Auswüchsen unserer Zeit?

Menschen leiden unter der Naturentfernung, auch wenn ihnen das nicht selbst bewusst ist. Vor einiger Zeit hat sich dafür der Begriff „Natur-Defizit-Syndrom“ etabliert. Denn meistens geht Naturferne einher mit einem überwiegend sitzenden, bewegungsarmen Lebensstil, der wiederum die sogenannten Zivilisationskrankheiten fördert. Ebenso wie die mangelnde Stimulierung der Sinne. Man darf nicht vergessen: Unsere Sinne sind da, um zu arbeiten! Wenn man sie nicht gebraucht, verliert man sie – use it or loose it. Wenn ich etwa den Gleichgewichtssinn nicht nutze, der so wichtig ist wenn ich über Stock und Stein im Wald laufe, dann wird er schwächer. Ein „verkümmerter“ Sinn jedoch wirkt natürlich zurück auf die Gesamtgesundheit des Menschen.

Sollte man den Garten als selbst gewählten Ruhe- und Aktionsort für sich alleine haben?

Nein, im besten Fall sucht man sich Mitmenschen, mit denen man dort gemeinschaftlich tätig sein möchte. Denn der Garten ist ein ganz hervorragender Ort des gemeinsamen Erlebens, der gemeinsamen Arbeit und eine kommunikative Zone, in der man über das Lebendige und seine Schönheit und über das Leben sprechen kann – auch über Schweres und Belastendes. Somit kann der Garten auch ein Ort gemeinschaftlicher Entlastung sein. Auch aus diesem Aspekt sind in den letzten Jahren die „Urban Gardening“-Bewegungen aufgekommen, wie etwa die Stadtgärten, Stadtacker und Prinzessinnengärten, wo Menschen gemeinsam Öd- und Brachflächen begrünen und bepflanzen. Diese Stadt-Gartenentwicklung findet sich übrigens auf der ganzen Welt.