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Gemeinsam stark Die Krise als Technologie-Beschleuniger

Eine Plattform des Magdeburger Fraunhofer-Instituts könnte Firmen und Arbeitnehmern bei Heimarbeit mehr Flexibilität verschaffen.

Von Alexander Walter 24.04.2020, 06:00

Magdeburg l Als der Lockdown Mitte März über Sachsen-Anhalt hereinbricht, geht er am Magdeburger Fraunhofer-Institut nicht vorbei. Wo sonst 190 Mitarbeiter und weit mehr als 100 Studenten an Digital Engineering oder Industrie 4.0 forschen, bleiben die Bildschirme in den Büros aus.

Gearbeitet wird stattdessen von zu Hause. Doch ausgerechnet die Speerspitze der digitalen Avantgarde im Land trifft es am ersten Tag im Home Office gleich doppelt. Ab Mittag geht nichts mehr: Keine Mail, kein Stream, keine Videokonferenz. Verantwortlich sind weder Hacker noch Viren. Es gibt ein ganz irdisches Problem: Bauarbeiter haben auf einem Nachbargrundstück aus Versehen die Glasfaserkabel gekappt. Doch das Fraunhofer-Institut wäre nicht das Fraunhofer-Institut, käme es damit nicht klar. Binnen Stunden bauen IT-Mitarbeiter Richtfunkantennen auf. Am nächsten Tag ist der Think-Tank am Wissenschaftshafen wieder einsatzfähig.

Instituts-Chefin Julia Arlinghaus muss noch immer ein wenig lachen, wenn sie diese Geschichte erzählt – ausgerechnet das Fraunhofer-Institut mit seinen Forschungsschwerpunkten in virtuellen Technologien, inklusive dem 3-D-Labor „Elbedome“.

Inzwischen läuft alles reibungslos. Seit fünf Wochen sind die Mitarbeiter im Home Office. Dabei läuft vieles gar nicht so sehr viel anders als in anderen Einrichtungen, sagt Arlinghaus.

Absprachen in großer Runde finden über Video-Konferenzen statt. Persönliches läuft über Telefon, Chat oder Mail. Fraglos macht man sich hier aber anders Gedanken darüber, was diese Krise mit Blick auf vernetztes Arbeiten auslöst, was sie in Gang setzen könnte. Die 36-jährige Arlinghaus glaubt: „Diese Krise könnte die Digitalisierung der Arbeitswelt wie ein Katalysator beschleunigen.“ Das vernetzte Arbeiten biete für Unternehmen und andere Einrichtungen viele Vorteile, sagt Arlinghaus, die auch Professorin an der Magdeburger Universität ist. Im Fraunhofer-Institut selbst sei mit dem Home Office die Flexibilität gewachsen. „Wir vertrauen unseren Mitarbeitern, dass Arbeit auf Ziele hin erledigt wird.“

Gerade Familien mit Kindern kommt das entgegen. „Sie können sich stärker selbst strukturieren“, sagt die Chefin. Das neue Arbeiten verlangt damit allerdings auch mehr Selbstdisziplin als bei vorgegebenen Abläufen im Büro. Digital vernetztes Arbeiten könnte allerdings noch aus einem weiteren Grund Schule machen:

In ländlichen Räumen mit großen Entfernungen könnten Firmen sich – bei entsprechendem Netzanschluss – künftig erhebliche Kosten für Fahrtwege sparen. Bezogen auf Europa sieht Arlinghaus Chancen mit Blick auf die Erreichung des sogenannten „Green Deal“. Dahinter steht das Ziel der EU, die Netto-Emissionen von Treibhausgasen bis 2050 auf dem Kontinent auf null zu senken. „Jetzt in der Krise haben wir in Stadtbereichen Schadstoffreduzierungen von 30 Prozent und mehr“, sagt Arlinghaus. Solche Effekte wird man sich merken. „Ich denke, dass etwa Konferenzreisen mit dem Flugzeug nicht mehr das Niveau erreichen werden, das sie vor der Krise hatten.“

Toll wären neben den üblichen Video-Konferenzen natürlich Projektionen mit virtuellen Avataren etwa im 3-D-Labor des Instituts. Nicht unähnlich denen, die man aus Filmen wie „Star Wars“ kennt, schwärmt Arlinghaus scherzhaft. Da kommt ein wenig der Science-Fiction-Fan in ihr durch.

Die Frage ist, ob Aufwand und Nutzen da im richtigen Verhältnis für eine breitere Anwendung stehen, sagt sie dann aber wieder ganz seriös. Mehr Chancen räumt die gebürtige Bremerin einer Software-Entwicklung ihres Hauses ein.

Experten haben eine Plattform geschaffen, auf der Arbeitnehmer über starre Schichten hinaus ihre Verfügbarkeit kundtun könnten – idealerweise auch über ihr eigenes Unternehmen hinaus. In Zeiten weltweit immer wieder leerlaufender Lieferketten und stockender Produktion könnte das Firmen mehr Flexibilität und Arbeitnehmern mehr Optionen bei der Jobwahl verschaffen.

Wenn gewollt, könne man die Plattform in vier Wochen zur Verfügung stellen, sagt Arlinghaus. Gespräche mit dem Wirtschaftsministerium hat es bereits gegeben. „Falls wir das zeitnah an den Markt bekommen, könnte das eine gute Entwicklung nehmen.“

Nicht alles kann aber über die virtuelle Welt laufen, auch das räumt Arlinghaus ein. Sie selbst freue sich nach Wochen im Home Office inzwischen wie ein Kind, wenn sie mal wieder ins Institut fahren kann, gesteht sie an diesem Vormittag in ihrem Büro.

Oft sei sie dann enttäuscht, dass gar niemand da ist. Bei Telefonaten ist Arlinghaus dazu übergegangen, stets ihre Kamera einzuschalten, sagt sie. Auch wenn das nur ein Hilfsmittel ist. „Wir alle brauchen ja soziale Kontakte, es ist extrem wichtig, dass man sich sieht.“